Wahre Geschichten

Ein (Gedanken-) Spiel mit Kirchentonarten,
begrenzt transponierbaren und anderen merkwürdigen Skalen
und den sieben Seelenfamilien

 

 

 

monday

lokrisch + Ganztonleiter: "Heiler"
Wahre Geschichten Eines Abends verfestigte sich in Knut der Drang, eine lange gehegte Schnapsidee endlich in die Tat umzusetzen („Wann, wenn nicht jetzt, wo, wenn nicht hier …“).
In bereits angetrunkenem Zustand (sonst hätte er das eh nicht ausgehalten, wie er vermutete) wollte sich der aufstrebende Musikwissenschaftler in seiner Stammkneipe seine zwei ganz persönlichen Ganztonleitern in Form von Alkoholika einverleiben. Er hatte dieses Projekt schon seit langem vorbereitet und eine Liste mit passenden Getränken angefertigt, die er dem Wirt seines Vertrauens bereits vor ein paar Wochen mit der Bitte übergab, etwa fehlende Marken extra für ihn bereitzustellen – der Preis spiele keine Rolle, schließlich habe er eine weltberühmte Dirigenten-Mutter, die über genügend Mittel verfüge, um ihr missratenes "Mamahanserl" im Zweifelsfalle auszulösen.
Knut lud zu diesem „Happening“ seine „zufällig“ fast immer anwesenden Lieblingssaufkumpanen Fips, Max, Struppi und Anders ein und forderte sie auf, mit ihm mitzuhalten, denn letztlich hatte er dem sympathischen rumänischen Kneipenpächter Peter-Dieter einen Bomben-Umsatz in Aussicht gestellt. Peter-Dieter echauffierte sich gerne über seinen Landsmann und Namensvetter Peter Maffay mit den Worten „Über Siebenbürgen hätt‘ er sollen gehen!“ Dieser häufig geäußerte Satz war neben Peter-Dieters Ehefrau Elfriede einer der Gründe, warum Knut, Fips, Max, Struppi und Anders fast jeden Abend in der „Funzel" abhingen. Dies nur am Rande.

Knut begann mit dem Ton „c“ und folglich einer Runde Calvados. Dann ließ er zügig ein „d“ in Form eines Dimple (Golden Selection) und ein „e“ folgen, dem er einen Eckes Edelkirsch zugeordnet hatte. Mit einem „fis“ und dem dazugehörigen Fisini Schwarzwald Aperitif (schwer zu besorgen!) leitete er die unvermeidliche enharmonische Verwechslung ein und prostete mit absichtlich verstellter Fis-telstimme seinen Freunden ein bedeutsames „Ges-undheit“ [hick, resp. sic] zu. „As“ und der dazugehörige Asbach und schließlich – für das „b“ – ein Ballantines folgten. Um die begrenzt transponierbare Tonleiter zu vervollständigen und dem Vorgang eine festliche Note zu geben, ließ er für sich und seine Freunde von der Wirtin – „El-Friede den Hütten, El-Krieg den Palästen“ – einen Cocktail Corcovado1 mixen.
Hatten Knuts Freunde bei den Anfangsrunden stets „Danke Knut, das tat gut!“ skandiert, so wurden sie spätestens nach dem Asbach verdächtig ruhig. Nach dem Corcovado bot sich ein trauriges Bild: Max schnarchte zurückgelehnt mit offenem Mund, Struppi lagerte seinen Kopf auf der Tischplatte, Anders versuchte mit ausgestreckten Armen und seinen Daumen, die er an die Tischkanten gepresst hatte, mit weit aufgerissenen Augen seinen schwankenden Oberkörper auszutarieren. Fips hingegen fand die Szenerie ausgesprochen lustig und kicherte mit halb geschlossenen Augen leise in sich hinein.
Knut beschloss, nach der vollendeten Tonleiter eine John-Cage-mäßige „Lange Pause“ einzulegen, mit seinen Freunden vors Haus zu treten und an der frischen Luft „einen durchzuziehen“.

„Geht’s wieder?“
„Danke Knut, das tat gut!“

Nun sollten für die einzig mögliche Transposition die passenden Getränke folgen. Für „des“ war Knut nach langem Grübeln „Desdemona Brut“ eingefallen, ein italienischer Schaumwein aus der Emilia. Der Prosecco fiel zwar ein wenig aus dem Rahmen, aber bestimmt würde etwas Leichtes, eine kleine spritzige Erfrischung, ihm und den Freunden guttun. Und:
„Steh‘ auf, steh‘ auf, steh‘ auf. So nimm dein volles Glas zur Hand und sauf es aus bis an den Rand, sauf aus, sauf aus, sauf aus – sauf aus, sauf aus, sauf aus.“ Das klappte vorzüglich: „Gnanke Knut, sdass gnat gnut … rülps“ – oder so ähnlich.

Dann aber nahm das Unglück seinen Lauf.
Für das „es“ hatte Knut einen Escorial grün (56 % vol) gewählt, (natürlich auf Eis und brennend!), folgen sollten für „f“ ein Fernet, für „g“ ein (original Danziger) Goldwasser, für „a“ ein Amaretto, für „h“ Hingfong (25 Tropfen zur Besserung des Befindens bei nervlicher Belastung) oder wahlweise Hoffmannstropfen – ebenfalls 25 – auf Würfelzucker (zur Senkung des Blutdrucks). Ganz zum Schluss war zur endgültigen Desorientierung beziehungsweise zur enharmonischen Cisternisierung ein Viertelchen Rotwein geplant, nämlich ein Cisterna Superiore d’Asti DOCG, prophylaktisch mit einem darin aufgelösten Alka-Seltzer.

Peter-Dieter servierte den Escorial wie abgemacht brennend und mit reichlich Eiswürfeln; er füllte das Getränk aber dummerweise in seine edelsten Cognacgläser. Die hielten den Hitze-Kälteschock nicht aus und zerplatzten in den Händen der Freunde, die sich allesamt leichte Verbrennungen zuzogen und jammernd nach Wasser lallten. Der Moment, in dem die fünf dünnwandigen Gefäße zersprangen (übrigens gleichzeitig mit vernehmlichem Knacken, wunderbar synchron bei großartiger Choreographie!), hätte jedem Feuerwerk den Rang abgelaufen. Knut erlitt neben einer stattlichen Brandblase am Daumen eine Schnittverletzung am Daumenballen, bevor sein zerborstener Schwenker klirrend zu Boden ging. Das Blut des Musiktheoretikers strömte über die Hand und tropfte auf den nicht sehr gründlich geputzten Kneipenboden.
Doch der, tapfer wie schlagfertig, hob die lädierte Pfote in die Höhe, wandte sich mit lokrischer Geste (sich mühsam um die eigene Achse drehend, soweit das in seinem Zustand noch möglich war) an alle Anwesenden, spuckte triumphierend auf die Wunde, verrieb Blut und Speichel und verkündete stolz: „Seht her, ich bin nämlich ein Heiler: In sechs Wochen sieht man davon kaum mehr etwas!“

Aus „f“, „g“, „a“, „h“ und „cis“ wurde übrigens nichts, der Verzehr von Fernet, Goldwasser, Amaretto, Hingfong/Hoffmannstropfen und Cisterna musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden. So kamen die fünf Freunde leider nicht in den Genuss eines eigentlich dringend benötigten aufgelösten Kopfschmerzpulvers.


1)







Rezept für einen Cocktail Corcovado
Zutaten: 2 cl Curaçao Blue, 2 cl Drambuie, 2 cl Tequila Silver, Zitronenlimonade, Crushed Ice.
Zubereitung: Ein Longdrinkglas zur Hälfte mit Crushed Ice füllen, die Spirituosen dazugeben, alles kräftig durchrühren, das Trinkgefäß mit Zitronenlimonade auffüllen, nochmals leicht durchmischen … und fertig. Zur Deko eine Orangen- und eine Zitronenscheibe bis zur Hälfte einschneiden und hintereinander an den Glasrand hängen.

giovedi

lydisch + Naturtonreihe: "Künstler"
Wahre Geschichten „Auf die Plätze!“ rief der Mann mit der Startschusspistole und der lydischen Tarnkappe. Also begaben sich Klio, Melpomene, Thalia, Urania, Terpsichore, Erato, Euterpe und Polyhymnia in zwei Vierergruppen zu ihren Startlöchern. Kalliope hingegen, die Älteste, schmollte gerade, und wollte nicht mitspielen: Irgend so ein Doofer hatte soeben ohne ihre Hilfe eine unmögliche – allerdings sehr wahre – Geschichte über einen betrunkenen „Heiler“ erfunden. Die „restlichen“ Musen bewegten sich anmutig zum Klang zweier apollinischer Tetrachorde und machten sich bereit, die „Reise nach Jerusalem“ zu spielen. Welche der acht stattlichen Damen später keinen Stuhl erwischte, wurde nur einem sehr exklusiven vorwiegend philosophischen Kreis bekannt, der den Namen der betreffenden Muse wohlweislich für sich behielt. Deshalb ranken sich in der irdischen Welt noch immer unzählige, antik anmutende Geschichten um den kindischen Vorgang, aus denen sich die Sterblichen je nach Geschmack, Lust und Laune ihr persönliches Fünkchen Wahrheit ziehen können, wenn sie wollen.

Zur gleichen Zeit am gleichen Ort (nur exakt zweitausenddreihundert Jahre später): Eine Naturtonreihe, nicht nur in den Sümpfen des Mississippideltas allseits präsent, brummt Gisbert, dem Gelegenheitstaxifahrer, wie ein australisches Schwirrholz sehr dionysisch durch den Kopf, als ihn der attraktive weibliche Fahrgast unvermittelt küsst. Kurz und auf deutsch: Ihm wird schwindlig. Er muss anhalten und sofort ein Gedicht zu Papier bringen, nicht weniger als dreiundzwanzig Strophen lang, von exquisitem Ebenmaß, treffsicher, pointenreich und wortgewaltig, das er, nachdem seine Muse (wie er sie später nennen wird) gezahlt und – als sei nichts gewesen – das Taxi verlassen hat, verzweifelt zerknüllt und sofort dem prasselnden Regen und dem peitschenden Sturm schenkt, die auf der nassen Straße mit den Zetteln einen unvergleichlichen Tanz voll poetischer Intensität und Anmut veranstalten. Gisbert kann sich nicht erklären, warum er beim Betrachten des höchst ästhetischen Vorgangs an ein dämliches Kinderspiel denken muss, bei dem er als Knabe aufgrund seiner Körperfülle so gut wie immer verloren hat. „So sind sie halt, die Künstler“, sagt eine schmollmundig-migränige Stimme in seinem Kopf.

mardi

äolisch + 2.Modus: "Krieger"
Wahre Geschichten Gerlinde träumte schlecht: Erst drückte sie eine Tube Sekundenkleber ins Aquarium und beobachtete voller Ekel und Entsetzen, wie ihre geliebten kleinen rosafarbenen Barsche, die Neonfische, die Rotkopfsalmler und ihre zwei Lieblinge, die „Schnorchis“, sich nach und nach verklumpten, und wehrlos und elend gemeinsam an die Wasseroberfläche stiegen, wo sie grausam verendeten; ein Bild, das sie an ölverpestete Seevögel erinnerte, die mit ausgebreiteten Schwingen vergeblich darauf warten, dass Besserung eintritt. Gerlinde wollte aufwachen, konnte aber nicht! Stattdessen veranstaltete sie weiterträumend ein Experiment mit ihrem Lieblingskätzchen Maunzi und dem Mikrowellenherd und wusste – im Schlaf –, sie würde die jämmerlichen Schreie und die platzenden Augäpfel niemals vergessen können; auch nach dem Erwachen nicht. Die Wörter Hiroshima und Nagasaki schwirrten durch ihren Kopf. Es folgten noch mehrere immer schlimmer werdende Grausamkeiten. So fesselte sie ihre beste Freundin, eine erfolgreiche Geigerin, hackte ihr mit einem Metzgerbeil beide Hände ab und ließ sie frei. Deren verzweifeltes Kreischen drehte Gerlinde Herz und Magen um; vorher hatte sie sich jedoch zynisch erkundigt, ob der Geigerin kurze oder lange Ärmel lieber wären. Das hatten in Ruanda auch Hutukämpfer gefragt, bevor sie mit Macheten Tutsi-Kindern die Arme kürzten … Und es wurde immer schlimmer. Gerlindes Gehirn sträubte sich gottlob dagegen, irgendetwas davon im Gedächtnis zu behalten.
Schließlich, kurz vorm Aufwachen, führte sie – für sie war das der Gipfel aller Scheußlichkeiten – ihren Lebensgefährten, den bekannten und allseits beliebten Musikkritiker Karl Friedrich Krieger derart hinters Licht, dass dieser bis auf die Knochen blamiert war und sich daraufhin mit einem Schuss in die Schläfe das Leben nehmen wollte. Der Selbstmordversuch schlug fehl und der einst so feinsinnige Mensch musste sein Restleben als empfindungsloses, gelähmtes „Monstergemüse“ verbringen; an Gerlindes Seite, versteht sich. Bei der banalen Täuschung mit den furchtbaren Folgen ging es um das „Dies Irae“ aus dem „Liber Usualis“ und die beiden zur vollständigen äolischen Tonleiter fehlenden Noten.
Gerlinde erwachte schweißgebadet und brauchte sehr lange, Realität von Traum zu unterscheiden: Zwar sah sie Karl Friedrich friedlich schlafend neben sich liegen, was sie sehr beruhigte, trotzdem stürmte sie mit klopfendem Herzen zum Aquarium, rief nach ihrem Kätzchen, das sich maunzend und schnurrend aufs Frühstück freute, telefonierte in aller Herrgottsfrüh mit der Geigerin, die sich etwas ungehalten wegen des Telefonats "zu Unzeiten" äußerte, und war schließlich heilfroh, dass alles beim Alten geblieben war.

Ihre fast nicht enden wollenden Alpträume hingegen waren kein Wunder, denn während sie schlief, wurde Gerlinde von einem außerirdischen Spion beobachtet, der später sinngemäß der Administration seines Heimatplaneten folgendes meldete: „Hier spricht Erkundungskommandeur C–Deses-Efisgab: Auf dem dritten Stein, der diesen heiß leuchtenden Stern umrundet, muss eine Katastrophe passiert sein – er ist vollständig verwüstet. Nichtsdestotrotz gibt es Überlebende, übrigens in ihrem Aussehen unserer Spezies ganz ähnlich. Sie sitzen verängstigt in einem biegsamen Käfig, der mit einer organischen Decke abgedunkelt ist. Die Individuen werden mit dünnen Schläuchen künstlich ernährt, verbrauchte Energie wird mit ähnlichen Schläuchen abgeführt. Die bedauernswerten Dinger sind gezwungen, durch ständige Pumpbewegung Sklavenarbeit für ein völlig undurchschaubares System zu leisten; ohne jegliche Pause, solange ein Tag-Nacht-Zyklus auf diesem Planeten dauert – bis sie sterben.
Auftragsgemäß versuchte ich Kontakt aufzunehmen, was mir allerdings nicht gelang. Das Resultat meiner Annäherung bestand darin, dass das Versuchsobjekt begann, rasend schnell zu pumpen. Ich hatte Bedenken, dass es kollabieren würde, wenn mein Geist weiter in das Wesen eindränge.
Unterm Strich: Mir erscheint es sinnvoll, die erbarmungswürdigen Exemplare durch Zerstörung des Himmelskörpers von ihrem Leiden zu erlösen. Deshalb erbitte ich eine entsprechende Order."
Leider hatte der Unwissende vom anderen Stern Gerlindes Herz mit der ganzen Gerlinde verwechselt …
Glücklicherweise war aufgrund des schlechten Wetters diese Nachricht nur begrenzt transponierbar1.
Glücklicherweise? Wer kann schon ermessen, welche (in irdischem Maß gemessene) Zeitspanne solch eine von Aliens initiierte Planetenzerstörung in Anspruch nimmt. Ein Jahr? Tausend Jahre? Eine Million?


1)gemäß Olivier Messiaen: 2. Modus.

Mercoledi

phrygisch + chromatische Tonleiter: "Gelehrte"
Wahre Geschichten Die Prüfungsfrage lautete: „Ein gedachter Planet F mit dem Gewicht von 1023 Mio. Tonnen befindet sich im Abstand von 105 Mio. km (Minimum) bzw. 106 Mio. km (Maximum) in einer elliptischen Umlaufbahn um eine Sonne, deren System sieben Planeten umfasst (Abstand der Planeten A bis E und G zur Sonne, deren Gewicht, Umlaufgeschwindigkeit etc. entnehmen Sie der beigefügten Tabelle). F, der von der Sonne aus sechste der sieben Himmelskörper, bewegt sich in einer Geschwindigkeit von rund 46.000 km/h. Beschreiben Sie, was passiert, wenn man diesem Planeten sein Eigengewicht hinzufügt. Beweis!“

Berta antwortete ohne zu zögern: „Planet A ist dann doppelt so schwer. Beweis: 1023 Mio. t + 1023 Mio. t = 2023 Mio. t“.
Freudestrahlend und siegesgewiss gab sie nach 10 Sekunden den Prüfungsbogen ab. Auf dem Pausenhof beschlichen sie quälende Gedanken: Warum brauchten ihre Klassenkameraden für solch eine einfache Frage so lange? Wozu die angehängte Tabelle – es ging doch nur um den einen Himmelskörper? Steckte da etwa etwas anderes dahinter? Dann der große Schrecken: Niemand kann einem Planeten sein Eigengewicht hinzufügen, nicht einmal ein Gott – und warum sollte er auch, falls es ihn überhaupt gäbe? Also bleibt alles beim Alten! … Nun ja, vielleicht käme ein Mathematiklehrer oder der Verfasser dämlicher Textaufgaben auf die merkwürdige Idee, das Gewicht eines Himmelskörpers künstlich zu verdoppeln.
„Oh verdammt,“ entfuhr es Berta, „es handelt sich um einen ‚gedachten‘ Planeten. Mist, ein Hinweis auf die Unlösbarkeit der Aufgabe hätte mir Punkte gebracht!“
Sie erinnerte sich daran, wie Magnus, ein ehemaliger Mitschüler, einmal einen Gnadenfünfer in Chemie bekommen hatte. Der (nicht nur) in naturwissenschaftlichen Fächern komplette Versager hatte bei einer Ex eine Antwort parat, die selbst dem sonst so humorlosen Chemielehrer Lachtränen ins Auge zwang. Die Frage lautete: Wie unterscheiden Sie Methyl- von Äthylalkohol. Die Antwort wäre extrem simpel gewesen: „Per Borax-Probe“. Magnus‘ Antwort: „Eines von beiden trinken: wird man blind, war es das falsche.“ Und nun erwies sich Berta als ähnlich einfach gestrickt!

Ein phrygisches Gelächter wehte um die Ecke und wirbelte ein paar bunte Herbstblätter auf. Berta war zwar immer flugs, flink, flott und fleißig, aber trotzdem nie so recht brauchbar in Physik und Mathe gewesen, zumal auf Vektoren war sie nicht besonders gut zu sprechen. Aber musste sie sich deswegen jetzt sogar von einem flüchtigen, chromatischen Herbstwind auslachen lassen?
Ein paar Zwölfjährige hopsten einem kleinen rundlichen bebrillten sommersprossigen weinenden Knaben hinterher und riefen dummes Zeug: „Gisbert, der Planetendepp, muss aus dem Universum weg!“

Der Gong markierte das Ende der Stunde. Wie Gelehrte diskutierend kamen Bertas Klassenkameraden die Treppe herab und redeten von zusammenstürzenden Systemen, von der Instabilität des Universums im Allgemeinen und von der gestellten Aufgabe im Besonderen. Eine Mitschülerin mutmaßte, dass beim Rücksturz des gedachten Planeten F auf seine Sonne nicht nur alle sechs anderen Objekte mitgerissen würden, es wäre vielmehr eine Kettenreaktion zu erwarten, die das gesamte Weltall ins Wanken brächte. „Quatsch!“ meinte Marika. „So ein Vorgang ist nichts anderes als ein nahezu unhörbares Räuspern oder Röcheln. Stellt euch ‚unser‘ Universum als ein Lungenbläschen im Organismus eines höheren Wesens vor, das gerade einatmet – schließlich dehnt sich unser Weltall im Moment aus. Irgendwann wird dieser Riese ja auch einmal wieder ausatmen. Und wenn er damit fertig ist, folgt Big Bang Nummer xn!“ Sie wiederholte den letzten Satz singend: er würde zum Refrain eines wunderbaren Hits werden: „Big Bäng Nummer ix hoch enn, Big Bäng Nummer ix hoch enn …“
Michel meinte, dass der Lehrer sich einen späten Aprilscherz mit seiner Klasse erlaubt hatte – die ganze Aufgabe sei der reinste Quatsch. Und Michel war gut in allen Fächern; nein, er war der Primus!
Warum – fragte sich Berta – hatte sie sich angesichts der universellen Bedeutungslosigkeit einen dicken Kopf gemacht? Dem Planeten F blieb doch schier nichts anderes übrig, als einem am Allerwertesten vorbeizusausen, oder?

Saturday

dorisch + 7. Modus: "Weise"
Wahre Geschichten „Scio me nihil scire“ (ich weiß, dass ich nichts weiß), sagte der eine – und der andere meinte: „Si tacuisses philosophus mansisses“ (hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben). Dann guckten die beiden Weisen sich1 entgeistert und betroffen an, weil … ja, weil ... Jedenfalls soll Reden Silber und Schweigen Gold sein. Da aber Schweigen oft sehr beredt sein kann, ließen sie als echte Philosophen den ganzen Quatsch und dachten sich an jenem denkwürdigen begrenzt transponierbaren2 Abend herrlichste sehr wahre dorische Geschichten aus, jeder der beiden insgesamt drei, die sie sich bei dem einen oder anderen Fläschchen Retsina erzählten und sich dabei köstlich amüsierten über Knut, Gisbert, Gerlinde, Berta, Erich und ein Schachbrett. Im Hintergrund lief eine bis dato unerhört eingefärbte 10-tönige schräge Musik (ohne die Töne b und e) aus einer fernen Zukunft, die allerdings zu dem ganzen Schmarrn vorzüglich passte.

Allerdings hielt sich in gewissen mehr oder weniger gut informierten Kreisen hartnäckig das Gerücht, die beiden Philosophen hätten sich innerhalb von sieben Wochen an sieben verschiedenen Wochentagen in sieben verschiedenen Orten getroffen: in der ersten Woche am Montag in Fort William (Schottland), in der zweiten am Donnerstag in Caltanissetta (Sizilien), in der dritten am Dienstag in Montpellier (Okzitanien), in der vierten am Mittwoch in Feriolo (Piemont), in der fünften am Samstag in Windermere (Lake District), in der sechsten am Freitag in Bayonne (Neu-Aquitanien) und in der siebten am Sonntag in Oberweiling (Bayern). Andere Kreise hielten die vermutete Reisefreudigkeit der beiden antiken Hellenen für äußerst unwahrscheinlich: Was sollte sie dazu bewogen haben, ihren Lieblingsretsina außerhalb Griechenlands zu trinken? Weiß man‘s?


1)postponiertes Reflexivpronomen, sh. Theodor W. Adorno … ich bin ja schon still!
2)gemäß Olivier Messiaen: 7. Modus

Vendredi

mixolydisch + 3. Modus: "Priester"
Wahre Geschichten Erich Icherer, aufrechter Katholik und Mesner, behauptete gerne von sich, dass er nicht wisse, wenn er spreche, wer da spricht: „er oder ich“. Wobei er unter „er" ein wie auch immer geartetes höheres Wesen verstand. Erich war auch sonst ein – wenn schon nicht zwielichtiger, so doch wenigstens – ziemlich zwiespältiger Mensch. Kein Wunder: bei dem Namen! Wie auch immer. Erich hätte gerne seinen sieben ganz persönlichen Todsünden Hochmut, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei und Wollust die rechten Plätze zugewiesen, die waren jedoch schon von sieben aufgrund ihrer „Reise nach Jerusalem“ erschöpften Musen besetzt, und so musste er sich zähneknirschend fügen. Obwohl er andererseits die Augen nicht von den anmutigen Damen lassen konnte. Gott, wie er da offen knirschglotzte und heimlich hinschielte!

Eines Tages hatte Icherer eine Erscheinung. Die Engel des Herrn oder waren es die Engel des Hichrn stiegen herab und versüßten ihm mit mixolydischen Harfenklängen den Messwein.
(Der Messwein ist ein Wein, mit dem vornehmlich Priester den Grad der eigenen Trunkenheit messen können: Wird er beim Trinken zum Blut des Heilands, dann ist man schon ganz schön beieinander, wenn nicht, kann man sich durchaus noch einen genehmigen!)
Und die Engel sangen unisono: „Was wir dir heut' verkünden müssen, ist, wenn dein Wasserhahn dreimal kräht und der Bischof die Wiese mäht, dann wird dich eine Muse küssen. Wahrlich, wahrlich, das musst du wissen!“
(Wieso eine Muse? Zur Strafe, weil sie bei einem dämlichen Kinderspiel verloren hatte: Was musste sie auch dauernd Liedchen trällernd und ein Möbiusband schwingend in höchst überflüssigen unendlich liegenden Achterlinien umherhopsen? Was aber war mit Kalliope, der ältesten? Die war aus bekannten Gründen am Schmollen – und ein Schmollmund küsst nicht so besonders gut. Davon kann so mancher Gelegenheitstaxifahrer a.k.a. verkannter Dichter berichten!)
Und die Engel trällerten ihr Liedchen: „Eine Muse wird dich küssen, doch vom klammen und heimlichen Kuss, den sie dir verpassen muss, wirst du gar nichts wissen. Du wirst ihn nicht bemeherken, den kann sie gut verbehergen!“

Seitdem wartet Erich: Bang lauscht er in stillen Nächten dem tropfenden Wasserhahn, in Nächten, deren Stille nur durch sein mittlerweile zum Tick gewordenes Räuspern unterbrochen wird, das wie „Hichr“ klingt. Ansonsten verbringt er sein Leben im stillen Gebet: „Oh Herr, so mach doch, dass der Zapfhahn oder wenigstens der Bischof kräht, und sei es nur einmal … und dass mich danach eine Muse küsst. Gib mir ein Zeichen – und sei es nur begrenzt transponierbar1 – und lass mich nicht zum unglaublichen – Verzeihung – ungläubigen Erich werden. Amen."

In einer psychiatrischen Klinik ans Bett gefesselt quälen ihn stattdessen nächtens viele Fürsten der höllischen Heerscharen wie Amon, Blutschink, Halphas, Descarabia2, Danag, AEsazel2, Forneus, Geslal2 und Gamigin.

Armer, armer Erich.


1)gemäß Olivier Messiaen: 3. Modus.
2)Man verzeihe die unorthodoxe Schreibweise.

Sonntag

ionisch + 6. Modus: "Könige"
Wahre Geschichten Ein Topf voll reinstem ionischen Gelb wurde einst versehentlich oder mit voller Absicht (wer weiß, wer schwarz?) über einem Schachspiel entleert. Der Vorgang färbte nicht nur die symmetrisch aufgebauten Bauern, Springer, Läufer, Damen, Türme und sogar die Könige mit der festlich strahlenden Farbe ein, sondern auch das Brett. Es versteht sich von selbst, dass die göttlichen oder teuflischen Spieler sich die Finger nicht revalzigarettengelb schmutzig machen wollten und sowohl dem Brett als auch den Figuren kampflos das Feld überließen. Unvermittelt herrschte komplette Orientierungslosigkeit unter den geblendeten Mannschaften. Besonders die bekanntermaßen recht bewegungsfreudigen Damen, die bislang naturgemäß das Gehopse der Springer verachtet hatten, sprangen nun verbotenerweise selbst umher wie verrückt gewordene Rössel, schlugen wild um sich und veranstalteten ein regelwidriges Gemetzel. Das ehemals perfekt unterteilte Schlachtfeld drohte zu einer nassgelb glänzenden kahlen Ebene zu werden. Allerdings taten sich sechzehn tapfere Bauern zusammen und probten den Aufstand, besetzten Türme, trieben Pferde zusammen, fesselten Läufer und hetzten die beiden Damen aufeinander, die gelbes Gift und gelbe Galle spuckten in einem Maße, wie man es zumindest in einem mit begrenzt transponierbaren1 Möglichkeiten gehandicapten Schachspiel noch nicht erlebt hatte.
Am schlimmsten jedoch waren die Könige dran. Die Schafköpfe wussten plötzlich nicht mehr, ob sie Schach- oder Kartenkönige sind und schlichen asthmatisch und blind – oder besser: verblendet – umher mit der Frage: „Bin ich’s: der Eichel oder der Schellen, der Herz oder der Grün?“ Letzteres (grün) waren sie sich ja sowieso noch nie gewesen – bringen Sie einmal zwei Könige zusammen: Oh je! Und statt ihren Mitfiguren strategische Bewegungsbefehle zu geben wie “Bauer d2 nach d4“, „Läufer c1 nach f4, oder „Turm h8 nach e8“ sagten sie „Die Ass läuft!“ und „Von wegen: Gestochen mit dem Biber!“, ohne zu bemerken, dass auf einer quadratischen Schachbrettfläche einfach keine Schafkopfrunde möglich ist.

Das mittlerweile getrocknete eingefärbte Brett nebst Figuren landete auf einer viel beachteten privaten Kunstausstellung im Stadtteil Gelbingen (Schwäbisch Hall, etwa zwei km nördlich der Kunsthalle Würth). Schon bei der Vernissage lobhudelten alle lokalen Kritiker in den höchsten Tönen: „Die Farbe ist ebenso königlich wie die Idee eines reinfarbigen Schachspiels!“
„Zur Dialektik von Idee und Umsetzung im Sinne der Frankfurter Schule könnte kaum ein Beispiel besser passen als dieses: Intellekt und Sinnlichkeit reichen einander die imaginären Hände.“
„Hier erfährt man einen eindringlichen Appell an den Frieden – festliche Versöhnung zweier Erzfeinde!“
„Freiheit (keine Unterteilung des Bretts), Gleichheit (alle Figuren sind gelb), Brüderlichkeit (sechzehn einige Bauern)!“
Etc. p. p. Na ja … Jedenfalls erstarrten alle vor Ehrfurcht – und war das denn ein Wunder?


1)gemäß Olivier Messiaen: 6. Modus.

Wahre Geschichten

Studentenfutter für die Seele

Wahre Geschichten Ein Spiel mit Kirchentonarten, begrenzt transponierbaren und anderen Skalen und den sieben Seelenfamilien.

Kompositionen, Texte, Arrangements und musikalische Umsetzung: Golly.
Aufgenommen und abgemischt 2003.

1.MondaylokrischGanztonleiterHeiler
2.GiovedilydischNaturtonreiheKünstler
3.Mardiäolisch2. ModusKrieger
4.Mercolediphrygischchromatische LeiterGelehrte
5.Saturdaydorisch7. ModusWeise
6.Vendredimixolydisch3. ModusPriester
7.Sonntagionisch6. ModusKönige
Wahre Geschichten
Teile der CD wurden im Kurzfilm "Mein Mörder, mein Mann" (2003) verwendet (Regie und Drehbuch Josef Rödl).

Zum 20jährigen Jubiläum der Scheibe habe ich die „wahren Geschichten“ frisch (und gut) aufgelegt und mit erweitertem Text und KI-generierten und bearbeiteten Illustrationen versehen (Prinzip und Motto: „ai and me“). Zudem wird ein komplett neues System erprobt: Eine „Langspielplatte“ (knapp 30 cm x 30 cm), die mit QR-Codes funktioniert – plus ein „Booklet“, dessen gerade Seiten man heraustrennen, einrahmen und an die Wand hängen kann, wenn man will., alles in allem ein Gesamtkunstwerk: Gemälde, Literatur und Musik.
Streng limitierte Auflage: 30 Stück, auf Wunsch signiert. Der Preis ist abhängig von der Wertschätzung des Käufers.

Zum besseren Verständnis der Musikstücke hier das System der Kirchentonarten (bezogen auf den Grundton c). Die ionische Tonleiter entspricht der Dur-Tonleiter, die äolische dem reinen Moll, die lokrische (hypophrygische) war im Mittelalter nicht bekannt bzw. wegen der verminderten Quinte verboten.
Wahre Geschichten Und hier die verwendbaren Noten bei den begrenzt transponierbaren Tonleitern, (systematisiert von Olivier Messiaen), der Naturtonreihe (beides bezogen auf den Grundton c) und der chromatischen Tonleiter. Messiaen nennt sieben Modi, die hier allerdings nicht alle untergebracht werden konnten:
Wahre Geschichten Der amerikanische Musikwissenschaftler John Schuster-Craig weist auf einen achten Modus hin (The Music Review Nr. 51, 1990).

Aufgrund der unorthodoxen Verbindung der Kirchentonarten mit „Tonleitern der besonderen Art“ entsteht eine merkwürdige aber nichtsdestoweniger charmante „unerhörte“ Musik; Studentenfutter für die Seele halt …