Veranstaltungskritiken
Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

Damische Kutter-Spookies
Etwas verhuscht aber äußerst malerisch sah der späte weibliche Faschingsgast aus, der kurz vor Mitternacht die Kneipe betrat und um ein Glas Leitungswasser bat. Sie sagte, sie habe einen trockenen Gaumen und einen elenden Geschmack auf der Zunge. Ich ließ ihr feinstes Velburger® in ein historisches Winkler-Seidel ein. Sie gurgelte die Halbe in einem Zug (nicht in einem verspäteten Zug der Deutschen Bahn!) hinunter, wischte sich mit dem blumigen Fastnachts-Ärmel über den Mund und bedankte sich überschwänglich. Ob ich denn etwas zu essen hätte, fragte sie anschließend. Schmierwillig (weil mir die Frau gefiel – ich hoffe, dass mir daraus kein wie auch immer gearteter Strick gedreht wird) bereitete ich ihr ein Eibrot. Das mundete ihr offenbar so sehr, dass ich ihr vier weitere ›machen‹ durfte. Wahrscheinlich wäre das noch eine Zeitlang so weitergegangen, in meiner Sixpack-Bioschachtel mit der Aufschrift ›frische Eier‹ hatte aber schon eines gefehlt. Also stieg sie auf Käsebrote um und aß sechs davon; danach war das vorzügliche Holofernes – äh – Holzofenbrot restlos verschlungen und ich hatte nur noch gesalzene Erdnüsse anzubieten. Nachdem sie circa sieben Packungen à 50 Gramm vertilgt hatte, bestand sie darauf, mir zum Dank eine Seite aus ihrem Tagebuch vorzulesen. Zum Dank! Dada: Da da da Fasching eh schon vorbei war, ließ ich sie gewähren.
Rashida Schisch – sie verriet mir später ihr karnevalistisches Synonym – legte los:
»Meine Freundin Gerry* hat sich aus einem Blechstreifen eine Ausstechform gebastelt, deren Umriss ein wenig an eine Hand mit ausgefransten Fingern erinnert. In der Blechdose mit der Aufschrift ›Damische Kutter-Spookies‹* liegen herzallerliebst lecker gebräunte Plätzchen vor mir und laden mich zum Naschen ein. Gerry hat mir eingeschärft, nicht mehr als eines, höchstens zwei auf einmal zu essen.
Ich probiere: Gerrys Plätzchen sind die besten! Sie schmecken außergewöhnlich – nach einer exotischen Pflanze vielleicht, oder als wären sie aus einem orientalischen Märchenbuch gefallen, nicht zu süß, eher etwas herb – aber sehr angenehm im Abgang. Na, ein zweites kann ja wohl nicht schaden. Ich knuspere es genüsslich und mache es mir bequem in meinem Fernsehsessel, zappe mich ein wenig durch die Programme und bleibe bei einer Dokumentation hängen – es geht um eine Heavy-Metal-Band und ich weiß nicht, ob der Film ernst gemeint oder eine Parodie ist. Und plötzlich sehe ich diesen Film in 3D – ohne 3D-Brille!
Nein, das ist keine Einbildung, mein Fernsehgerät ist zu einem Guckkasten geworden, ich kann in die Tiefe blicken. Da befällt mich ein entsetzlicher Gedanke: wenn ich Zweidimensionales dreidimensional sehen kann, wie ist das dann mit der realen Welt: Sehe ich die dann vierdimensional? Ich traue mich nicht, den Blick vom Fernseher zu wenden. Vom Inhalt des Films verstehe ich schon lange nichts mehr, ich lasse mich von der Hardrock-Bühne im Fernsehapparat quasi hineinziehen ins Geschehen. Da dreht einer seinen Marshall-Verstärker bis zum Anschlag auf, nein, nicht bis zehn, sondern bis elf – das muss wohl eine Sonderanfertigung sein; um ein 50 cm hohes (!) Stonehenge-Fragment tanzen zwei vergleichsweise riesige Zwerge. Jetzt kämpft der Bassist während der Live-Show gegen eine durchsichtige futuristische eiförmige Zelle, in der er gefangen ist; die Roadies versuchen ihn mit Hammer und Schweißbrenner zu befreien. Vergeblich. Schon ist der Song zu Ende und die anderen Musiker schlüpfen in ihre sich öffnenden ähnlichen Zellen zurück, das Bassisten-Gehäuse macht unerwartet auf, der Musiker stolpert heraus, merkt, dass es Zeit ist, zurückzukehren; zu spät! er bleibt in der zuschnappenden Öffnung stecken, halb draußen, halb drin. Ah! Jetzt ist der Schlagzeuger explodiert. Was soll das? Ich verstehe überhaupt nichts mehr, muss dringend auf die Toilette, aber getraue mich nicht, meinen Sessel zu verlassen, zu groß ist die Angst, im Raum-Zeit-Kontinuum verloren zu gehen.
Schließlich wird der Drang zu groß – ich robbe auf allen Vieren zum Klo und erkenne, dass die momentane Gravitation irgendeine zwangsläufige Konsequenz irgendeiner stringtheoretischen oder quantenphysikalischen Beschreibung der Welt ist.
Meine Erkenntnis findet in der dritten Dimension statt, glücklicherweise. Gleich darauf falle ich zusammen mit den zehn Raumdimensionen in ein schwarzes Loch … und wache in der Speiskammer auf. Ich bin hungrig, öffne eine Packung Makkaroni, merke, dass die Nudeln innen hohl sind (Beschiss!) und ich sie füllen muss.
Gefüllte Makkaroni à la Clemens Wilmenrod: „Man nehme eine Packung lange Makkaroni und eine Packung Spaghetti, auf keinen Fall Spaghettoni – die sind zu dick – eher Spaghettini.
Nun schiebe man einen einzelnen Spaghetto in einen einzelnen Makkarono, und wiederhole diesen Vorgang, bis man etwa 90 Gramm Spaghettaroni bzw. Makkaroghetti hergestellt hat, ein durchaus erotischer Vorgang. Dünne Nudel-Überstände werden mit einer Nagelschere oder einem Fußpflege-Saitenschneider abgezwickt. Jetzt wird ein großer Tiegel voll Mittelmeerwasser – vielleicht besser: Wasser vom Toten Meer – zum Kochen gebracht und die Teigwaren eingelegt. Während der zwölf Minuten dauernden Garzeit sollte ein alter Peter-Alexander-Schlager gejodelt werden:
›Wenn der Toni mit der Vroni und die Vroni mit dem Toni einen Kuddel- Kuddel- Kuddel- Kuddel- Kuddelmuddel macht, gibt der Spaghettoni seiner Makkaroni und die Makkaroni ihrem Spaghettoni so ein Bussel, Bussel, Bussel, Bussel, Bussel, dass es kracht.‹ (Ende des Tagebucheintrags.)«
Etwas verhascht sah der späte weibliche Faschingsgast aus, der am Haschermittwoch früh um eins zufrieden und vollgefressen die Kneipe verließ, einen Gospel-Song auf den Lippen: ›Hush, Hush, Somebody’s Calling My Name‹. Ja, Rashida, wer soll das sein, wenn niemand weiß, wie du richtig heißt?
*Der Name wurde aus Diskretionsgründen geändert.