Veranstaltungskritiken

Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

2024 13.02.

Fadipo (Faschingsdienstagspost?) Nein! Fanfare, Didgeridoo, Posaune

Die drei Musiker, die am Rosenmontagabend die Kneipenbühnenbühne erklommen, nennen sich „T-RaumZeit-Continuo“. Und tatsächlich: das englisch-sprachige Trio mit dem etwas sperrigen deutschen Namen (auf englisch geht das Wortspiel nicht: dream/space) beglückte die beiden Anwesenden mit einer Musik, die nicht nur aus der Zeit gefallen zu sein schien, sondern auch aus dem Raum. Ein Traum!
Da war zunächst einmal ein barock gekleideter ›Herald‹ aus der Alten Welt (genauer gesagt aus England), der die Naturtonreihe seiner Fanfare ganz entzückend ausnützte und in den höchsten Tönen – dem Clarinregister (vierte Oktave) – brillierte, ohne Fehler, und stets ideenreich und erstaunlich schnell, natürlich in festlichem D-Dur.
Neben ihm ein etwas fröstelnder australischer Aborigine in Originaltracht (Lendenschurz und Ganzkörper-Bemalung), der mit seinem – tonal zur Barocktrompete passenden – Didgeridoo virtuos alle Register zog, Tierstimmen imitierte und sämtliche rhythmischen Finessen beherrschte. Der Obertonreichtum seines altehrwürdigen Instrumentes fügte sich perfekt den Fanfarenmelodien … Oder war’s umgekehrt? … Der Obertonreichtum dominierte ganz unaufdringlich das Melos der Fanfare … Oder war’s umgekehrt? … Sehr sinnlich und verwirrend, jedenfalls.
Und dann war da noch der dritte im Bunde: ein Bilderbuch-Jazzer aus der Neuen Welt, ein Afroamerikaner, bekleidet mit einem eleganten schwarzen Anzug, weißem Hemd, blutroter Krawatte, Krokodillederstiefeln und verspiegelter Ray-Ban Sonnenbrille ›Clubmaster‹, der seiner Zugposaune eine Mischung aus Cool-Jazz, Bebop, Hardbop und Free entlockte, oft voller feeling und im Geiste John Cages »as slow as possible« slidend, übrigens hin und wieder mehrstimmig (hätte Albert Mangelsdorff das gehört, dann hätte er noch gelebt und anerkennend genickt; mindestens) – und dann wieder in einer derart hohen Geschwindigkeit, dass den Zuhörern die Sinne schwanden, nein schwirrten. Das alles geschah immer d’accord mit den anderen beiden, ohne dominant zu sein. 
Das Zeit-Traum-Continuo schien sich gegenseitig zu beflügeln, sich von einer Höhe zur nächsten hinaufzuschrauben. Um ein Bild zu bemühen: Das wirkte wie die akustische Untermalung dreier sich umkreisender, die Thermik virtuos ausnutzender Greifvögel … Oder war‘s umgekehrt? … Drei Fantasieadler, die durch unsere Köpfe wirbelten, untermalten vor unserem inneren Auge das phänomenale akustische Geschehen. Auf alle Fälle wurde ergreifende Greifvogelmusik geboten, bei der die Zeit stehenzubleiben schien, Musik, deren Wirkung man durchaus mit der eines LSD-Rausches vergleichen kann, unbeschreiblich bewusstseinserweiternd … und intonierte der Herold nicht gerade ›I can see for miles and miles and miles and miles and miles‹ von ›The Who‹?!

Und dann?
… stoben in die meditative Ekstase zwei Zeuginnen Jehovas, und der Zauber zerplatzte wie eine große bunt schillernde Seifenblase, die ihren Inhalt, nämlich unzählige glitzernde sternförmige Stanniolkonfettis, auf unsere Seelen rieseln ließ.
Der Australier hörte auf zu brummen, der Ami setzte die Posaune und die Sonnenbrille ab (er hatte erstaunlich blaue, Blues-Brother-Jake-mäßige Augen!), der Herold nahm die Bachblütentrompete, sorry, Bachtrompete vom Mund und fragte: »Are you Jehovah‘s Witnesses … how do you say: ›Zeuginnen Jehovas?‹«
»Nein«, tönte es fast unisono. »Erstens heißt das ›Zeugen Jehovas‹, und zweitens sind wir Avon-Berater*innen!« Hier war ein komplett überflüssiger Glottisschlag zu hören.
»Und was wollt ihr hier?« fragte ich etwas konsterniert, immer noch von den Seelensternchen aus der Seifenblase beeindruckt. »Ein Glas Leitungswasser? Oder etwas Stärkeres?«
»Ach, nichts; wir wollen nur schauen« kam es in unbedarftem Ton zurück. Und dann steckten sie uns einen gedruckten Zettel zu, der uns fast mit den beiden als Bachblüten verkleideten Liesls (sorry! Stimmt nicht: sie sahen aus wie gepflegte Hausfrauen – und das waren sie wohl auch) versöhnen konnte.
»Eigentlich wollten wir Tupperware®-Gastgeber/-innen werden, aber lest selbst, richtet euer Augenmerk auf das blaue Feld; das konnten wir mit unserem Sprachgefühl dann doch nicht vereinbaren.« 
Auf dem Ausdruck, einem Screenshot, stand ein unglaublich schön gegenderter Satz: ›Sprich (d)ein oder (d)eine Tupperware® Berater/-in an‹. 
Die beiden Damen wurden uns immer sympathischer. Eine der beiden fuhr fort: 
»Und hier ist noch ein Beispiel für die angewandte Schönheit unserer sich stets verändernden Sprache: ›Unter www.thermomix.de - "den will ich haben" können Sie Kontakt zu einem/einer Repräsentant(in) aufnehmen. Wählen Sie "als Kunde betreut werden" in der angegebenen Auswahl und Ihr Kontakt wird einer/m Thermomix® Repräsentant/-in in Ihrer Nähe zugeordnet.‹ Na, das ist doch was!«
Und dann rückten sie doch noch heraus mit ihrem tatsächlichen Anliegen:
»Wir haben etwas ganz Besonderes dabei, das wir nur heute und nur hier für einen ganz besonderen Sonderpreis von nur 39,99 € anbieten wollen, 3 Stück zum Preis von vier!«
Wir waren ganz Ohr:
»Es handelt sich um einen elektronisch gesteuerten, vollautomatischen: Tusch! … Bananenschäler!«
Na klar, uns überzeugte die Zeugen-Jehova-Avon-Tupperware-Thermomix-Berater*innen-Strategie, mit der uns die beiden Pseudo-Bachblütinnen um den Finger wickeln konnten. Wir kauften ihnen fünf Bananenschäler zum Sonderpreis von sieben ab, verteilten die äußerst sinnvollen Werkzeuge an unsere Gastmusik*er, die sich mit einem weiteren zwei-Stunden-Konzert bedankten, und tanzten gemeinsam in einen trüben aber äußerst harmonischen Aschermittwochmorgen …
halt, nein, es war ja erst die Nacht von Rosenmontag auf Faschings-dienstag … daran sieht man, wie sehr ein elektronisch gesteuerter, vollautomatischer Bananenschäler zusammen mit frei improvisierter Musik aufs Bewusstsein drücken kann.

»Es ist sehr schwierig, jedes Mal eine neue Geschichte zu erfinden.« (frei nach Heinrich Lübke, Bundespräsident von 1959 bis 1969)