Veranstaltungskritiken

Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

2023 12.02.

Ernst-Albert Reimer

„Wie heißt es so schön bei MMW?  Nein, ich meine nicht Mord' Mein Westfahlen, sondern Marius Müller-Westernhagen: In seinem Schlager ‚Willenlos‘ aus dem Jahr 1994 singt er: ‚Ihr Name war Natascha, sie kam aus Nowosibirsk, wir tranken Wodka aus Flascha, sie hätt‘ mich beinah‘ erwirsk.“ 

Mit diesen Worten und einer banalen Melodie auf den Lippen platzte nach der Jahreshauptversammlung unseres Kulturvereins ein merkwürdig aussehender älterer Herr ins Klassenzimmer. Wieso merkwürdig? Er wirkte wie eine optische Mischung aus Albern [sic] Einstein und Mach’s [sic] Ernst und ich war sofort villenlos. Na ja, ich hatte vorher schon keine Villa besessen. „Wattenscheid!“ rief der späte Besucher, noch bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, um die obligatorische Frage zu stellen, Wasser-Wolle (Wasser-Wolle? Natürlich: was er wolle) und als ich begann, wie ein wandelndes Fragezeichen auszusehen: „Wattenscheid! rufen die Bochumer, wenn sie ‚was für ein Scheiß‘ meinen … und reimen.“

Dann stellte er sich als Ernst-Albert Reimer vor. Er sei ein Suchender und – man könne es erraten – er suche nach neudeutschen Reimgesetzen oder viel mehr nach Gesetzlosen, die sich der Sprache bemächtigen, um Reime zu installieren, die es gar nicht gibt, selbst wenn oder vielleicht weil solche Outlaws über eine bemerkenswert undeutliche Aussprache verfügten. "Apropos: 'Ihr Name war Nataschen, sie kam aus Nowosibürgt, wir tranken Wodka aus Flaschen, sie hätt‘ mich beinah‘ erwürgt.' Das ist auch nicht besser. Neuer surrealistisch-dadaistisch-genialischer Vorschlag: 'Es gab Naht-Taschen voll Flaschen in Novo*. Sie bürgt: Dschihad ihn erwürgt. Wen? Mar-i-us, Schuss und Schluss mit Mar-i-us'. Hier stimme zwar der Reim, aber sowohl die Wortstellung als auch der Inhalt sei bedenklich und der Rhythmus unmöglich; dafür erwürge – äh – verbürge er sich.
Ernst-Albert zückte sein Notizbuch:
"Der wüsteste Reimverderber, der mir jemals untergekommen ist, ein gewisser Lothar Matthäus, reimte 'Wäre, wäre, Fahrradkette' – oder hier zum Beispiel: In Schnaittach (Franken) gibt es die Kanone-Brauerei, die eine Zeitlang für ihre wunderschönen Bierdeckelreime bekannt war: ‚Schöner als ein Blumenstrauß Ist doch ein „Kanone“-Rausch!‘ – ‚Hast du ein‘ „Kanone“-Rausch Sieht die Welt ganz anders aus!‘ 
Das ist großartig und mit Sicherheit noch werbewirksamer als 'Woisch Kalle […] von Seitenbacher – Seitenbacher!  Dass sich Seitenbacher auf Seitenbacher reimt, liegt auf der Hand. Jedoch: auf nach Schnaittach, ohne Müesli – Bierdeckelpetition starten! Her mit den alten Kanonereimen!"
Auch mit der undeutlichen Aussprache von Schlagersängern habe Ernst-Albern, abgesehen von seinem Drang, unmögliche Reime aufzuspüren, seine liebe Not. Ein großer Nuschelmeister sei Heinz Rudolf Kunze. Reimer habe da stets Folgendes verstanden: "'Dein ist mein ganzes Herz' (Diesen Satz hat Kunze kurzerhand oder besser diebeshand der Franz-Lehàr-Operette „Das Land des Lächelns“ entnommen – klar, wenn einem selbst kein Satz einfällt …) Aber dann folgt: 'Du bist mein Rheumaschmerz, wie werden Chinesen sein, uns wird die Welt zerteilt.' Was für ein ungereimter Quatsch! Abgesehen davon: Wenn jemand zu einem geliebten Menschen 'Dein ist mein ganzes Herz' sagt, muss er einen gewaltigen Schlag haben. Normalerweise flüstert man seinem geschätzten Gegenüber so etwas wie 'ich hab dich lieb' oder Ähnliches ins Ohr, das ist ebenso aussagekräftig wie wirkungsvoll."
Es gebe aber auch Negativbeispiele, bei denen allzu perfekte Reime nerven, etwa: „Wenn ich mich am Rothsee so dreh‘, dass ich ein Boot seh‘, kann’s sein, dass ich rot seh.“ Aber das sei eigentlich nicht Reimers Spezialgebiet – da müsste man einfach ‘mal Rapper- beziehungsweise "Hipperty-Hopperty-Texte" untersuchen oder Poetry-Slammern auf die Zehen steigen respektive auf die Zähne fühlen, oder als Zahnarzt den Zahn füllen, falls er hohl wäre – oder auf die Finger klopfen und die Reime auf ihre Sinnfreiheit abklopfen. 
Er habe jetzt aber gar keine Zeit, die Thematik noch weiter zu erläutern oder gar zu ventilieren, er sei ein Getriebener, nicht lang Gebliebener, von Zweifeln Zerriebener, meist falsch Geschriebener (er presste ein „Ernst-Albern“ durch die knirschenden Zähne), ein häufig Vertriebener …
"Ja, es ist genug. Tschüs!" sagte ich. 
Im Hinauseilen rief er mir noch zu:
„Du hast doch bestimmt auch ein Beispiel!“
„Na klar, und was für eines: 'Wenn du nichts bist und auch nichts kannst, dann gehst zur Post und Eisenbahnst. Und wenn du da nichts wirst, wirst Wirst.'“
Hoch erfreut bedankte sich Ernst-Albern [sic], notierte sich das außergewöhnliche Reimbeispiel, 

setzte sich forsch
in den klapprigen Ford
und dann seine Forsch-
ungsreise fort.
Ein Lichtkegel
bei Nacht und Nebel – falsch! – Negel,
Nacht war es zwar, aber der Negel war fort – stattdessen schien ein rapide abnehmender Mond durch schnell ziehende Wolkenfetzen (alles gelogen: es war kalt und klar und tausend Sterne funkelten vom mondlosen Himmel – aber was tut man nicht alles, um einem wenn auch noch so windigen Reim gerecht zu werden?)
Jedenfalls: irgendwas schien auf auf eine gespenstige Szenerie
und auf ein surreales Genie**,
das ich ähnlich wie! Ähnlich wie?
… ähnlich wie schon das legendäre Duo Salman Závodský – Avril Fürst) mit dem monetären Äquivalent von sechs Kilogramm Leberkäse nebst einem Glas voll mit mittelscharfem und einem voll mit süßem Senf, sieben Komma fünf Kilogramm Endivien-Kartoffelsalat, vierzig Schrippen und zwei Flaschen "2019 Castel Montegriffo Rosso Dolomiti Vigneti delle Dolomiti IGT Rosso" (Dallmayr-Wein des Jahres 2022) abspeiste.

*Novo Mesto (Unterkrain, Slowenien)
**Max Ernst, Albert Einstein