Veranstaltungskritiken

Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

2022 25.10.

Marianne Sägebrett

Es scheint sich einzubürgern, dass sich zu Unzeiten und völlig überraschend Gäste in der Kneipenbühne einfinden, die meinen, mir partout ihre Künste vorführen zu müssen. Ich denke mit Grausen an Andreas-Sebastian Forsch-Beiß (siehe "Kritik" vom 3.10.22 – ein Kochstift) und seine „kuller-narrische“ Spezialität. Seit der Wunderkoch mich nötigte, davon zu kosten, verursacht mir allein der Gedanke an Ketchup, Mayonnaise, diverse Senfarten und Rhabarberlimo ein vehementes Übelkeitsgefühl … Moment … ich muss mal raus …

So, es geht wieder. Wo war ich? Ja: Jedenfalls klingelte es am gestrigen Dienstag (nein, „Allerheiligen“ ist erst am 1. November – erst dann hätte ich einen Überraschungsbesuch erwartet – und wäre sonstwo gewesen, nur nicht zu Hause!) pünktlich nach der Tagesschau um 20:15 Uhr unten und oben. Nicht zuletzt wegen „Andibasdi“ (Andreas-Sebastian) vorsichtig geworden, lugte ich durchs Wohnzimmerfenster im ersten Stock und erblickte eine stattliche junge Frau in Zimmermannskluft (schwarzer Hut mit breiter Krempe, schwarze Weste, weißes Oberhemd, schwarze Schlaghose, schwarzes Jackett). In der Hand hielt sie einen Wanderstock aus Holz, über der Schulter trug sie ein Bündel mit offenbar lebenswichtigen Dingen; sie bot alles in allem einen äußerst malerischen Anblick! Ich dachte sofort an meinen Schlamassel mit der Bachblüten-Liesl (siehe "Kritik" vom 20.6.2021 – Linksgrantl) und beschloss, sie abzuwimmeln, um nicht wieder in eine Bedrouille mit Hanne zu geraten. Doch ich kam nicht zu Wort, denn sie sagte ein zünftiges Gedicht auf, das lang und länger wurde und nicht enden wollte, bis ich sie hereinbat. „Nach Handwerksbrauch zu reisen / soll man den Zimmermann preisen! / (…) Um Dein Handwerk zu beleben, musst Du dem Stenz die Sporen geben! / (…) Frage nicht nach Geld und Gut, / im Kurs steht hoch der Reisemut (…)“ Und so weiter und so fort – sie bat in holprigen Versen um Wegzehrung und Unterkunft, die ich ihr um des lieben Friedens willen endlich gewährte. Zur Besieg‘lung tranken wir / einen Schnaps und ein, zwei Bier (Jetzt fange ich auch schon an zu reimen, verdammt!)
Dass sie den ehrbaren Beruf des Zimmermanns ausübe, sei offensichtlich, und ich solle bloß nicht Zimmerfrau zu ihr sagen, da werde sie fuchsteufelswild: „Zimmerfrau klingt wie ‚Mamsell‘ oder noch schlimmer wie ein in die Jahre gekommenes Zimmermädchen!"
"Zimmermännin?"
"Hör mir bloß auf! Zimmermanngesellin ist okay.“ 
Heute sei ihr erster Tag auf der Walz, das heißt, heute morgen habe sie eine Flasche Schnaps (und noch ein paar wichtige Dinge) in einem tiefen Loch am Ortsrand vergraben, danach sei sie über das Ortsschild geklettert und nun dürfe sie sich ihrem Heimatort nicht mehr nähern und zwar drei Jahre und einen Tag lang, bevor sie den Schnaps wieder ausgraben dürfe. Der Bannradius betrage 50 Kilometer. Offenbar sah ich aus wie ein Fragezeichen. Sie zuckte mit den Schultern: 
„Ja, das ist halt so der Brauch“. Woher sie stamme, fragte ich sie.
„Aus Holzheim. Und mein Name ist Marianne Sägebrett. Man nennt mich auch die ‚Singende Säge von Holzheim‘ (so ähnlich wie die plappernde Schnarre von der FDP). Soll ich dir eine Kostprobe meines Könnens liefern?“ Ich wollte Widerspruch einlegen, aber … zu spät, schon legte sie los:

„Unter dem Kastanienbaum hab‘ ich ihn geküsst.
Unter dem Kastanienbaum hab‘ ich ihn vermisst.
Unter dem Kastanienbaum, da war es wunderschön.
Unter dem Kastanienbaum will ich ihn wiederseh’n,
unter dem Kastanienbaum will ich ihn wiederseh’n.

Unter dem Olivenbaum hab‘ ich ihn beglückt.
Unter dem Olivenbaum hab‘ ich ihn ge –"
„Stopp!“ rief ich.
„Wieso? Sind Kinder im Haus?“ antwortete sie; und schon sang sie weiter. Es folgten noch mehrere Strophen, unter anderem eine mit einem Holunderbusch und eine mit einem Magnolienstrauch; und das Ganze wurde immer zotiger. Ich wusste jedenfalls bis dato nicht, was man unter Bäumen, Büschen und Sträuchern alles treiben kann. Aber am Schlimmsten war die Melodie. Der Ohrwurm bohrte sich derart tief ins Gehirn, dass ich vermute, ihn noch tage- wenn nicht wochenlang nicht loswerden zu können und jedenfalls schwer darunter zu leiden haben werde. Und außerdem glaube ich, dass man sie charmant aus ihrem Dorf gejagt hat: „Du gehst jetzt auf die Walz, und zwar sofort!“ Und bestimmt nennt man sie zu Hause nicht die singende Säge, sondern die singende Nervensäge.

„Ich pflege aber auch ein anderes (selbst gezimmertes) Steckenpferd“, sagte Marianne nicht ohne Stolz: „die Linguistik. Viele Bücher darüber wurden von mir schon konsumiert, gerade bin ich drüber, 'Einführung (hihi, Einführung …) in linguistische Praktiken' von Prof. Rüdiger Mitt-Nichten zu lesen. Da bin ich aber erst auf Seite 6. Und nebenher suche ich nach einem Oberbegriff für Wörter oder Wortteile, die gleich klingen, jedoch eine verschiedene Bedeutung haben und direkt hintereinander gesprochen werden.“
“Nennst du mir ein Beispiel?“
„Eine coole Kuhle – also eine klasse Vertiefung.“
„Okay. Aber wer kennt heutzutage noch das Wort Kuhle? Es gibt einen Film aus dem Jahr 1932 (Drehbuch unter anderem Bertold Brecht) namens Kuhle Wampe: so hieß damals ein Zeltlager (heutzutage sagt man Campingplatz) in Berlin.  Wahrscheinlich vermuten nicht gerade wenige junge Leute, dass es in dem Film um eine coole Wampe geht, also einen ansehnlichen Schmerbauch. Dasselbe gilt für das berühmte Leuchtdioden-Luftschiff.“
„Hä?“
„Led Zeppelin! Aber so etwas wie coole Kuhle kommt bestimmt nicht gar so häufig vor?“
„Oh doch! Man bringt ganz oft in Holzheim Holz heim.“
„Okay.“
„Ich habe mal ein Lied geschrieben …“
„Bitte nicht!“
„Ein spanisches. Pass auf:“ Und schon sang sie wieder: „Ali besuchte eine Tante, die er in Alicante kannte.“ Wieder folgten jede Menge Ferkeleien, die ich hier nicht wiedergeben mag … 

„Hast du weitere Beispiele?“
„Aber sicher: Rokoko-Kokotte, Annes Anästhesist. Übrigens: Wieviel nimmst du pro Prosecco? Schenkst du uns ein‘ ein? Und zwei Zweigelt, gelt! … Prost! … Hm, das tut gut. Im Dialekt gibt’s jede Menge: Ich mooch kanne Cannelloni, aber Spaghetti hätti gern. Mach mir doch Spätzle, Spätzle. Heid had der Don Juan Donnschuh an (für Nichtfranken: Turnschuhe), und das findet Louis Prima prima. 'Buona sera, signorina, buona sera. It is time to say goodnight to Napoli!'" Marianne wurde fröhlich und laut. "Du darfst mich Märi-Änn nenn'. Und ich dich Rolli-Golli? Darf ich? Den Roggn-Rolligen-Golli? Übrigens: Trinkt ein Dschinn Gin Tonic? Ach mix uns doch zwei.“
Das ging noch eine Zeitlang so weiter. Mir schwirrte schon lange der Kopf, nicht nur von Märi-Änns Dauerbeschuss, sondern auch von Schnaps, Cocktails, Bier, Wein und Prosecco. 

Ich glaube, es reicht jetzt hier auch, liebe Leserschaft. 

Einen Übergriff Mariannes – sorry, jetzt habe ich mich versprochen – einen Überbegriff für Mariannes Beispiele fanden wir übrigens selbst bei Professor Rüdiger Mitt-Nichten mitnichten. Dafür nach durchzechter Nacht kaum mehr unser uns jeweils zugeteiltes Bett. Bet (englisch: wetten)? Na ja, das stimmt jetzt nicht ganz. Aber hier ist das doch ganz legal egal. 
Jetzt wird Märi-Änn erst einmal geweckt, kriegt das versprochene Frühstück … und dann schicke ich sie weiter, in dem beruhigenden Bewusssein, dass ich sie frühestens in drei Jahren wiedersehe – Oberweiling ist glücklicherweise keine 50 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt und somit innerhalb des Bannradius'.