Veranstaltungskritiken

Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

2016 06.02.

Թամարա Ամարատ

Wie schon im vergangenen Jahr gab es nach der Jahreshauptversammlung des Vereins Projekt Film & Kunst e.V. (kurz: Pro-Fik-Huhn) ein Überraschungsevent. Man erinnere sich: am 26.1.2015 erlebten die wenigen Gäste ein eigentlich unbeschreibliches Hubschrauberkonzert (Salman Závodský/Avril Fürst).
Nun, heuer durften wir eine junge Armenierin namens Թամարա Ամարատ (Tamara Amarat) aus Ima-Irrtez, einem winzigen Dorf am Fuße des Ararat, des höchsten Gipfels der Türkei, begrüßen, die ihre Zuhörer mit einer literarischen Lesung beglückte. Tamara, die wie ein Blizzard ins Klassenzimmer hereinschneite (obwohl es draußen regnete), wies zu allererst darauf hin, dass ihr Name „eine [sic] Pseudonym“ ist und sie in Wirklichkeit mit Vornamen Trara (armenisch Tarara) heißt. „Der dumme Vorname ist von total komplett verrückte հայրիկ – Hayrik, auf deutsch Baba – gegeben worden. Tamara viel schöner als Tarara!“ Ihr Vater, Arrak-Armenak Amarat, ist übrigens ein international anerkannter und geschätzter Bibelforscher (Altes Testament), wie Tamara uns nicht ohne Stolz mitteilte: “Baba berühmt ’mindest in Georgia und Azerbeijan, weniger in Türkiye“.
Bevor sie aus ihrem schmalen, auf englisch verfassten Büchlein vorlas, erzählte sie ein wenig aus ihrem jungen Leben: Inspiriert von häufigen Besuchen der Handschriftensammlung Mantenaderan (in der armenischen Hauptstadt Jerewan), zu denen sie ihren „Baba“ schon als kleines Mädchen begleiten durfte, fing die Literatin früh zu schreiben an und verfasste zunächst kurze Gedichte und Aphorismen wie zum Beispiel „Der bunte Gott sitzt auf meinem Daumenballen und pfeift mir was.“ (siehe Bild, bitte anklicken), bevor sie sich an einen Roman wagte. 
Der liegt bislang in wunderschöner Handschrift nur als Manuskript vor – ein englischer Text mit armenischen Schriftzeichen, ebenso faszinierend wie verwirrend. Tamara möchte ihr Werk jedenfalls persönlich unter die Leute bringen, in der Hoffnung, dass ein Buchproduzent darauf aufmerksam wird. Leider befand sich wieder einmal kein Verleger in der Kneipe, noch nicht einmal ein Vertreter der Lokalpresse. 
Das Ziel ihrer Reise, gestand Frau Amarat leicht errötend (warum?), ist Biarritz (auf baskisch Miarritze). Nach Istanbul, Sofia, Belgrad, Budapest und Wien steuerte sie jedoch zunächst Oberweiling an. (Ja, auch in Jerewan ist die Kneipenbühne bekannt und in Künstlerkreisen außerordentlich beliebt.) Die genannten Orte waren die bislang wichtigsten Stationen ihrer Wanderschaft. Als weiteren Zwischenstopp auf ihrer Reise nach Spanien hat sie Paris eingeplant. Ans Ziel zu gelangen erweise sich derzeit für sie aber als recht schwierig, sie habe nämlich bislang „an jeder Scheißgrenze“ nachweisen müssen, „keine Terrorist- oder Flüchtlingin“ zu sein. (Offenbar liegt auch die Kneipenbühne irgendwie auf der Balkanroute. Das O'Wei-Team hieß Tamara jedenfalls ohne Alaaf, Helau, Konfetti, Schisslaweng, Schnettereteng und Trara herzlich willkommen – wozu auch das Gedöns?) 
Nach langer, überaus sympathischer amü- und imposanter Einführung begann die charismatische Armenierin dann schließlich zu lesen, nicht ohne vorher einen Tipp zu geben: „Für mich mein Roman ist wie eine Matroschka … wenn verstehen, was ich meine.“ Das be- und erlesene Publikum verstand sehr bald, was sie meint.
Ihr Erstlingswerk erzählt das brüchige Leben eines zunächst plumpen armenischen Bauernburschen, der sich im Verlauf seines kurzen, heftig abenteuerlichen Lebens zu einem sensiblen Beobachter der Welt entwickelt, nur um daran zu scheitern und als Alkoholiker zu enden. Der Titel ihres Buches ist allein schon ein Genuss: „The History Of Mr. E“, mit dem Untertitel „The Mystery Of His Story“ gliedert sich – wie sollte es anders sein! – in 23 Episoden. Der Roman beginnt in ungehobeltem, geradezu grob armseligem Englisch, um von Kapitel zu Kapitel formal wie inhaltlich immer feinsinniger, präziser und knapper zu werden. Das letzte kommt mit einem einzigen Satz aus: „So mystery died!“ Tamara erklärte, dass sie sowohl von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, als auch von Wenedikt Jerofejew beeinflusst wurde, dessen „Reise nach Petuschki“ sie quasi auswendig kann, wie sie beteuerte: „Vor allem den Kapitel Hammer-und-Sichel – Karatscharowo“. 
Hanne, Heike, Volker und Golly (leider ihre einzigen Zuhörer) entlohnten Թամարա Ամարատ reichlich, etwa wie im vergangenen Jahr Závodský und Avril, denn schließlich soll sie ja glücklich und gesund das Ziel ihrer Reise erreichen, und drücken alle acht Daumen, dass sie einst den Literaturnobelpreis erringt. Die Künstlerin hat darum gebeten, sie nicht zu fotografieren oder zu filmen. Sie glaubt, dass jede Abbildung eines Menschen dessen Seele ein wenig schwächt – fast unmerklich zwar, und doch in der Endsumme verheerend.
Für Interessierte: Tamara Amarat ist auch auf Facebook zu finden. (Tamara Amarat, bitte anklicken)