Tistou
ein Hippie-Märchen-Musical
nach dem Roman "Tistou mit den grünen Daumen" von Maurice Druon.
Text und Musik: Golly
Personen
in der Reihenfolge ihres Auftretens
zwei Marktschreier, Kinder (spielend oder Rollschuhe fahrend), ein Zoowärter, ein Straßenmusikant | |
Maurice | Erzähler |
Passanten | |
Tistou | kleiner Junge |
Taufpatin ,Taufpate, Pastor, einige Verwandte | |
Madame Mama | Tistous Mutter |
Monsieur Papa | Tistous Vater |
Kammerdiener | |
Frau Kreidestaub | Lehrerin |
einige Schulkinder | |
Turner | Pony |
Schnurrebarbe | Gärtner |
Trommelpfiff | Geschäftsführer |
arme Leute, eine arme Mutter mit Kind, ein blinder Bettler | |
Extrazeil | Zeitungsverkäufer |
zwei Zeitungsjungen, Handwerker, Touristen, Zootiere | |
zwei Stadträte | |
Dr. Vielübel | Arzt (derselbe Schauspieler wie Schnurrebarbe) |
Malisa | krankes Mädchen |
Anmerkung:
Um Personal zu sparen, können die "namenlosen Rollen",
also Passanten, Handwerker etc.
von immer wieder denselben Schauspielern
gespielt werden.
Die Szenen des Stückes werden auf der Bühne und an verschiedenen Orten im Zuschauerraum gespielt,
die vom Publikum jedoch alle gleichzeitig gesehen werden können.
Hin und wieder befinden sich Akteure schon eine Szene vor ihrem Auftritt am Ort ihres Auftretens:
Während im Klassenzimmer noch Unterricht gehalten wird, sitzen Tistous Eltern bereits im Wohnzimmer (sh. 1./ 2. Szene);
während Tistous Eltern feststellen, dass ihr Sohn möglicherweise krank ist,
befinden sich der Doktor und das kranke Mädchen bereits im Krankensaal (sh. 20./ 21. Szene), etc.
Akteure, die sich schon eine Szene vor ihrem Auftritt am Ort ihres Auftretens befinden, verhalten sich möglichst unauffällig,
um das Publikum nicht vom Gang der Handlung abzulenken.
Es wird ein kleiner blumengeschmückter Altar mit Taufbecken benötigt (möglichst weit vom Wohnzimmer entfernt),
das Wohnzimmer in Tistous Elternhaus (auf der Bühne),
ein Klassenzimmer (später Krankenzimmer im Hospital),
ferner das Gefängnis, der Zoo, das Elendsviertel
und der Garten mit Pferdestallung (lediglich das Klassenzimmer muss umgebaut werden):
also eine richtige kleine Stadt.
Das ist sehr wirkungsvoll, da im Verlauf der Aufführung alles mit Blumen bedeckt wird.
Man kann dazu zum Beispiel militärische Tarnnetze verwenden, in die große Papierblumen geflochten sind, man kann mit Blumenmustern bemalte Schirme aufspannen, Blumengirlanden entrollen, mit mechanischen Zaubertricks arbeiten etc.
Zeit: Gegenwart.
Ort: Russland, Belarus, Türkei oder ein anderer beliebiger Unrechtsstaat.
Prolog (ad lib.)
Stadt, später Wohnzimmer
zwei Marktschreier | in Alltagskleidung. |
Kinder | in Alltagskleidung. |
ein Straßenmusikant | in Alltagskleidung. |
ein Zoowärter | in Uniform. |
Maurice, Erzähler | in schwarzem Anzug, weißem Hemd, mit Zylinderhut und weißen Glacéhandschuhen, sieht ein wenig wie ein magisches Wesen aus |
Passanten | in Alltagskleidung. |
Tistou | in Alltagskleidung. |
Taufpatin | in Festtagskleidung. |
ein Pastor | im Talar. |
Verwandte | in Alltagskleidung. |
Madame Mama | Tistous Mutter, blond und zart, mit rosaroten Fingernägeln und einem rosaroten Hausanzug nach der neuesten Mode. |
Monsieur Papa | Tistous Vater, schwarzhaarig, mit gepflegtem, modernem Haarschnitt, vielleicht mit Dreitagesbart, smart, sorgfältig gekleidet, das Äußere jedenfalls up to date. Alles in allem: reich und vornehm. |
ein Kammerdiener | in Livree. |
Während das Publikum den Zuschauerraum betritt, herrscht in der Kulissenstadt schon reges Treiben.
Es gibt einen Stand mit Marktschreiern, an dem Tistou-Romane, CDs und Devotionalien (Hippie-Buttons etc.) verkauft werden.
Kinder spielen Gummitwist, Himmel und Hölle, laufen Rollschuhe oder Skateboard,
ein Saxophonist oder Gitarrist macht Straßenmusik,
ein Zoowärter knipst die Eintrittskarten.
Maurice, der Erzähler, begleitet manche Zuschauer durch die Stadt auf ihre Plätze.
Wenn das gesamte Publikum Platz genommen hat, begibt sich Maurice nach vorne und gebietet mit Handzeichen Ruhe.
Musik erklingt (CD, Nr. 1: Ouvertüre).
Passanten kommen aus den Häusern und bevölkern die Kulissenstadt.
Maurice mischt sich unter sie.
Das Wohnzimmer von Tistous Eltern ist mondän ausgestattet.
Man sieht, dass hier reiche Leute wohnen.
Das Zimmer ist eingerichtet mit einem Sessel, einem großen Globus und einer Couch (sie steht an der Rückwand des Zimmers,
an der Wand befindet sich eine Klingelvorrichtung für den Kammerdiener).
An der Wand hängt das Gemälde einer Kanone (die Kanonenmündung hat ein Loch,
durch das später Blumen geschoben werden).
Auf dem Tisch liegen ein Börsenblatt und ein Frauenjournal, ferner befindet sich darauf eine Schale mit Keksen, Schokoriegel und ein Teeservice.
Im Hintergrund eine geschwungene Treppe.
Tistou kommt am Treppengeländer herabgerutscht. Seine Mutter ruft ihn aus dem Off:
"Tistou! Tistou!" Tistou läuft zu ihr hinter die Bühne.
Maurice bleibt stehen und wendet sich zum Publikum.
Maurice | Tistou? Mit einer Geste bringt Maurice die Passanten zum Stehen, mit einem weiteren Handzeichen bewegt er sie dazu, in den Kulissen zu verschwinden. Die Ouvertüre verklingt. Während Maurice Tistous Geschichte erzählt, geht er langsam nach vorne und auf die Bühne. Tistou ist ein sehr ungewöhnlicher Name. Man findet ihn in keinem einzigen Namenregister, weder in Frankreich noch in anderen Ländern. Es gibt keinen heiligen Tistou … und trotzdem lebt ein kleinen Junge, den alle Welt so nennt. Alle Welt, außer seinem Vater, denn der ist ein sehr korrekter Herr, stets auf Würde und Stil bedacht. Aber warum ansonsten Tistou von jedermann Tistou genannt wird, muss man ja wohl doch erklären. Also das ist so gewesen: ein paar Tage nach seiner Geburt nämlich - da ist er nicht größer als ein Graubrot gewesen (er zeigt die Größe) haben ihn eine feine Dame und ein vornehmer Herr in Festtagskleidung zur Kirche getragen. Eine Taufpatin und ein Taufpate bringen ein Taufkissen mit Puppe zu einem Pastor, der das Kleine nach allen Regeln der Kunst tauft. Eine feuchte Angelegenheit: auch das Publikum wird mit der Bürste ein wenig besprengt. Maurice begibt sich zum Ort des Geschehens. |
Pastor | Ich taufe dich auf den Namen Jean-Baptiste. In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen. |
Maurice | Klar, dass der Kleine protestiert hat, wie viele seiner Säuglingskollegen und -kolleginnen in seiner Lage. Babygeschrei vom Band Aber die Erwachsenen haben ja keine Ahnung von den Protesten ihrer Neugeborenen und bestehen mit Nachdruck auf dem Namen, den sie sich für ihre Sprösslinge ausgesucht haben. Wer fragt denn schon so einen Frischling nach seiner Meinung? Kurz und gut, der Name Jean-Baptiste ist amtlich, daran ist nichts zu rütteln. Übrigens... die erste Zeit über ist Jean-Baptiste fortwährend abgeküsst worden. Denn er ist ein sehr hübsches Baby gewesen. Verwandte kommen hinzu, umringen das Kleine und liebkosen es mit dem üblichen Singsang. Die Erwachsenen, wie man weiß - und besonders die mit den großen schwarzen Nasenlöchern, den Falten in der Stirn und den Haaren in den Ohren -, haben die Gewohnheit, jedes frische kleine rotbäckige Menschlein abzuküssen. Aber dabei geschieht manchmal etwas ganz Sonderbares: plötzlich sind die Erwachsenen nicht mehr in der Lage, den Namen auszusprechen, den sie ihrem Kind selbst gegeben haben. Und in unserem Fall haben sie begonnen, Jean-Baptiste "Tistou" zu rufen. Die Verwandten rufen: "Tistou!" Das ist nichts Besonderes: hört euch nur um! Es gibt zahllose Mädchen und Jungen, die Thomas, Susanne, Michael oder Agnes heißen. Und trotzdem ruft man sie Tom, Mausi, Mitch, Betzi oder so. Maurice klatscht in die Hände und lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Bühne. Im Wohnzimmer sitzen Madame Mama - sie liest ein Frauenjournal - und Monsieur Papa - er blättert im Börsenblatt - auf der Couch. Tistous Eltern sind beide sehr hübsch und durch ihren Anblick hat Tistou sich daran gewöhnt, Schönheit für etwas Selbstverständliches zu halten. Hässlichkeit hingegen hält er für eine bedauerliche Ausnahme oder schreiende Ungerechtigkeit. Tistou betritt die Bühne, setzt sich zwischen Monsieur Papa und Madame Mama und kuschelt mit ihnen. Wirklich: Tistou kann sich nicht beklagen. Denn er hat nicht nur Monsieur Papa und Madame Mama ganz für sich allein, sondern er nimmt außerdem an ihrem glücklichen und sorgenfreien Leben teil. Ihr habt es sicher schon bemerkt – Tistous Eltern sind sehr reich. Sie bewohnen ein wundervolles Haus mit einem herrlichen Garten. Wenn Tistou Schokolade isst, hebt er das Stanniolpapier sorgfältig auf und gibt es dem Stallburschen, der das Pony Turner versorgt. Tistou isst einen Riegel Schokolade und steckt das Papier in die Hosentasche. Die Mähnen und Schwänze von Monsieur Papas Pferden werden nämlich kunstvoll mit Stanniol durchflochten, denn Monsieur Papa liebt das Prächtige und Glanzvolle. Monsieur Papa klingelt nach dem Kammerdiener. Dieser erscheint und verbeugt sich stumm und perfekt. |
Monsieur Papa | Meine Pferde müssen blitzen wie Edelsteine! |
Maurice | Wenn Tistou sich unbeobachtet fühlt, schwingt er sich rittlings auf das Treppengeländer und saust hinunter. Es ist seine Rodelbahn, sein fliegender Teppich, seine Zauberstraße. Der Kammerdiener poliert das Geländer. Der Kammerdiener putzt und poliert es jeden Morgen blitzblank. Tistou verlässt das Zimmer und geht in den Garten, Monsieur Papa wird ihn dort kurze Zeit später treffen. Tistous Geburtsort ist die kleine Stadt Kimmelkorn. Und Monsieur Papa hat die große und einzige Fabrik weit und breit. Es ist eine Waffenfabrik, über die er zu seinem Sohn zu sagen pflegt: |
Monsieur Papa | zeigt hinunter zur Fabrik: Mein Sohn, wir haben ein gutes Geschäft: Kanonen sind besser als Regenschirme, die niemand kauft, wenn die Sonne scheint. Kanonen lassen sich immer verkaufen, egal wie das Wetter wird. Madame Mama erscheint im Garten und führt Tistou weg. |
Madame Mama | zu Tistou, im Hinausgehen: Fünf Äpfel für zwei Ponys, wie teilt man das, Tistou? |
Maurice | Madame Mama hat Tistou bis vor kurzem selbst unterrichtet. Das ist lustig und schön gewesen. Aber nun ist Tistou sechs Jahre alt und alles hat sich verändert: Seit einigen Tagen geht er zur Schule. Maurice verabschiedet sich mit einer Verbeugung und setzt sich ins Publikum. |
Tistou ist mittlerweile, von den Zuschauern möglichst unbemerkt, ins Klassenzimmer gegangen und hat sich auf seinen Platz gesetzt
Sollten hier oder auch sonst im Verlauf des Stückes Umbauten notwendig werden, wäre es hübsch, wenn Maurice dabei behilflich wäre.
Solche Umbauten können mit einer Reprise der Ouvertüre überbrückt werden. Falls Maurice an den Umbauten beteiligt ist,
sollte sich im Verlauf der Handlung Maurices Kleidung verändern:
er tritt am Anfang in schwarz auf, am Ende des Stückes ist er sozusagen in Blumen gehüllt:
er wird bei jedem Erscheinen ein wenig blumiger.
1. Akt
1.Szene
Klassenzimmer
Schulkinder | in Alltagskleidung. |
Tistou | in Alltagskleidung. |
Frau Kreidestaub | mit dicker Brille, einer strengen Frisur, im grauen Kostüm; in der Linken hält sie einen Zeigestock. |
Eine monotone Musik erklingt (CD, Nr. 2: In der Schule).
Frau Kreidestaub steht an der Tafel und schreibt Zahlen auf:
2 : 2 = 1; 4 : 2 = 2; 6 : 2 = 3; 8 : 2 = 4 etc. bis 14 : 2 = 7.
Die Kinder schreiben mit. Wenn sie fertig ist, klopft sie mit dem Zeigestock im Rhythmus an die Tafel.
Frau Kreidestaub | rhythmisch: Zwei durch zwei ist eins. |
Kinder | rhythmisch im Chor: Zwei durch zwei ist eins. |
Frau Kreidestaub | rhythmisch: Vier durch zwei ist zwei. |
Kinder | rhythmisch im Chor: Vier durch zwei ist zwei. |
Frau Kreidestaub | rhythmisch: Sechs durch zwei ist drei. |
Kinder | rhythmisch im Chor: Sechs durch zwei ist drei. |
Mittendrin - etwa bei 'Zehn durch zwei ist fünf' - beginnt eine phantasievolle Melodie und eines der Kinder, nämlich Tistou, beginnt zu singen.
Tistou | murmelt: Sieben Schwalben auf zwei Telefondrähten … macht drei komma fünf Schwalben pro Draht... |
Frau Kreidestaub | lehnt ihren Zeigestock an die Tafel und geht zu Tistous Platz. Tistou merkt nichts und träumt weiter. |
Tistou singt:
Wie teilt man eine Schwalbe
in Viertel oder Halbe?
Ach das muss doch schwierig sein:
hier ein Flügel, dort ein Bein -
wäre sie aus Kuchen
könnt man 's ja versuchen...
Frau Kreidestaub | laut und wütend: Tistou! Die Musik bricht ab. Die Kinder lachen. |
Tistou | schreckt hoch: Ich... ich... hab 's nicht mit Absicht getan, Frau Lehrerin. |
Frau Kreidestaub | Ich hab 's nicht mit Absicht getan, wenn ich das schon höre! Wiederhole, was ich zuletzt gesagt habe. |
Tistou | zögert, die Kinder lachen. |
Frau Kreidestaub | Nun, wird 's bald, du Himmeldonner... du Katastrophe von Kimmelkorn! |
Tistou | Sieben Kuchen … geteilt durch vier Schwalben … ergibt … |
Frau Kreidestaub | stampft mit dem Fuß auf: Note sechs! |
Die Schulglocke erklingt. Die Kinder stehen auf und verlassen das Klassenzimmer.
Frau Kreidestaub | Halt, Tistou, hiergeblieben! |
Tistou | bleibt traurig stehen. |
Frau Kreidestaub | Geh zu deinem Platz zurück, du bleibst noch ein wenig hier und schreibst fünfmal ab, was an der Tafel steht. Ich werde einstweilen mit deinen Eltern telefonieren. So geht das nicht weiter. Sie wirft die Tür hinter sich zu. |
Auf der anderen Seite der Türe steht ein Telefontisch, darauf ein Telefon und ein Telefonbuch.
Frau Kreidestaub setzt sich, blättert in ihrem Notizbuch
und sucht dann im Telefonbuch eine Nummer.
Gleichzeitig trottet Tistou an seinen Platz zurück und packt sein Heft aus.
Die Musik (CD, Nr. 2: In der Schule) erklingt nochmals.
Tistou singt:
An der Tafel soll was steh'n?
Der Zeigestock, den kann ich seh'n.
Ach, das muss doch schwierig sein,
wie schreib ich den ins Heft hinein.
Fünfmal noch dazu...
Tistou sinkt nach vorne auf die Bank und schläft ein.
Die Musik wird leise und verschwindet.
2.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie im Prolog. |
Madame Mama | wie im Prolog. |
Frau Kreidestaub hat die Nummer gefunden und wählt.
Im Wohnzimmer von Tistous Eltern klingelt das Telefon.
Madame Mama liegt auf der Couch und feilt ihre Fingernägel,
Tistous Vater sitzt im Sessel und liest das Börsenblatt.
Mama und Papa trinken Tee und naschen gelegentlich von der Keksschale.
Tistous Eltern halten sich bereits seit Beginn der ersten
Szene wieder im Zimmer auf.
Monsieur Papa | legt die Zeitung auf den Tisch und nimmt dann den Hörer ab: Ja bitte? |
Frau Kreidestaub | Kreidestaub ist mein Name, Frau Kreidestaub. Ich bin Tistous Lehrerin. Verzeihen Sie die Störung, mein Herr. Spreche ich mit Tistous Vater? |
Monsieur Papa | Jawohl, ich bin der Vater von Jean-Baptiste. Was gibt es denn? | Frau Kreidestaub | Machen Sie sich keine Sorgen, Tistou kommt heute etwas später, er muss nachsitzen. |
Monsieur Papa | Wieso denn das? |
Frau Kreidestaub | Tja, wie soll ich das erklären … Ich komme mit Tistou nicht zu Rande. |
Monsieur Papa | Das ist doch ein braver, aufgeweckter Junge!? |
Frau Kreidestaub | Das schon, aber … |
Monsieur Papa | Aber was? |
Frau Kreidestaub | Tistou ist ununterrichtbar. Sie verstehen, was ich meine: nicht zu unterrichten. |
Monsieur Papa | Nein, ich verstehe nicht! |
Frau Kreidestaub | Nun, Tistou schläft immer im Unterricht ein. Vielleicht sollten sie darauf achten, dass er nachts mehr Ruhe hat? | Monsieur Papa | Der bekommt genügend Schlaf. Den schicken wir jeden Abend um sieben ins Bett. Wie sich das gehört. |
Frau Kreidestaub | Aha, gut. Doch da ist noch etwas anderes: Tistou träumt und träumt. Nehmen wir das Einmaleins durch, denkt er an Schwalben und Kuchen. Jetzt lasse ich ihn gerade nachsitzen und habe ihm eine Aufgabe gestellt. Aber ich glaube nicht, dass er sie richtig verstanden hat. Er versteht nie etwas richtig. Ich meine übrigens nicht, dass er dumm ist … er ist eben nur ganz anders als die anderen Kinder, ein äußerst ungewöhnlicher Bub. Halt ununterrichtbar. Zumindest in allgemeinen Schulen. Sie jedenfalls könnten es sich doch leisten, ihm Privatunterricht erteilen zu lassen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber in unserer Schule ist kein Platz für ihn. |
Monsieur Papa | Das ist ja entsetzlich! Doch danke für Ihren Anruf. Da werde ich mir etwas ausdenken müssen. Danke sehr, auf Wiederhören, Frau äh … |
Frau Kreidestaub | Fräulein! |
Monsieur Papa | Fräulein äh … |
Frau Kreidestaub | Kreidestaub. |
Monsieur Papa | Kreidestaub. |
Frau Kreidestaub | Fräulein Kreidestaub. |
Monsieur Papa | Wiederhören. |
Papa legt auf, Frau Kreidestaub legt auf. Sie öffnet die Tür zum Klassenzimmer,
sieht den schlafenden Tistou, schütttelt resigniert den Kopf, schließt leise die Tür und geht ab.
3. Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie im Prolog. |
Madame Mama | wie im Prolog. |
Monsieur Papa steht auf und geht nachdenklich auf und ab.
Er hält sich die Magengegend und macht ein schmerzverzerrtes Gesicht.
Madame Mama | Schatz, hast du wieder Magenschmerzen! Wer war denn das? Ist in der Fabrik etwas nicht in Ordnung? Gibt es Absatzschwierigkeiten für deine Waffen, deine Gewehre, Kanonen, Granaten, Bomben? Gibt es etwa keinen Krieg mehr, weil du so sorgenvoll schaust? |
Monsieur Papa | Nein, nein, Liebling. Der Waffenhandel läuft gut wie nie. So viel Geld haben wir lange nicht verdient. Nein, das ist es nicht. Unser Sprössling macht mir Sorgen: der ist anscheinend schwieriger zu leiten als eine Kanonenfabrik. Gerade wurde er aus der Schule geworfen, weil er dauernd träumt. Ah. Mein Magen … Er hält sich den Magen. |
Madame Mama | Sag, dass das nicht wahr ist, Schatz! Oh, welche Schande. Unser Tistou schulunfähig! Oh, ich glaube, ich bekomme einen Migräneanfall. Unser Tistou. Oh! |
Monsieur Papa | Werde nicht hysterisch. Und sag nicht immer Tistou. Unser Sohn heißt Jean-Baptiste. Die Lehrerin meinte ja auch nur, Tist... äh Jean-Baptiste sei anders als andere Kinder. Und die muss es ja wissen, die ist schließlich Fachfrau. |
Madame Mama | Anders als andere Kinder. Pah, dass ich nicht lache! Unser Tistou. Er hat zwei Arme, zwei Beine, ist fröhlich und voller Ideen. Und... jedenfalls ist Träumen nicht so gefährlich wie eine Lungenentzündung. |
Monsieur Papa | Das ändert nichts daran, dass er ein vernünftiger Mensch werden muss! Er hält sich den Magen und macht ein schmerzverzerrtes Gesicht. |
Beide schweigen eine Weile. Man sieht, dass sie nachdenken.
Monsieur Papa | Ich hab 's! Unser Sohn braucht Privatunterricht. Und ich weiß auch schon die richtigen Lehrer. Naturkunde kann ihm unser Gärtner Schnurrebarbe beibringen: der kennt alle Steine, Pflanzen und Tiere, der kennt das Wetter und die Sterne. Und Gesellschaftskunde bekommt er von meinem Geschäftsführer Trommelpfiff: der war beim Militär, der kennt sich aus mit Pflicht und Recht, mit Gesetz und Ordnung. Du wirst schon sehen, unser Tist... äh Jean-Baptiste wird ein ordentlicher Mensch. Von wegen anders als die anderen! So, ich gehe jetzt gleich in die Fabrik und teile Trommelpfiff seinen neuen Aufgabenbereich mit. Und du, Liebling, gehst in den Garten und sprichst mit Schnurrebarbe. |
Madame Mama | Schatz, das ist die Lösung. Ich eile. Ich fliege! |
Sie steht auf und geht sehr damenhaft ab.
Monsieur Papa nimmt noch einen Schluck Tee und folgt ihr im Managertempo.
4. Szene
Klassenzimmer
Tistou | wie in der ersten Szene. |
Frau Kreidestaub | wie in der ersten Szene. |
Musik ertönt (CD, Nr. 2: In der Schule).
Tistou schläft immer noch auf seiner Bank.
Tistou singt im Schlaf:
Drei Datteln mal zwei Pflaumen ergeben nie sechs Daumen.
Frau Kreidestaub öffnet die Tür zum Klassenzimmer, sieht den schlafenden Jungen
und greift sich fassungslos an die Stirn. Dann geht sie zu Tistous Bank.
Frau Kreidestaub | ärgerlich: Tistou! Herr Tistou! Glaubst du, eine Schule ist ein Erholungszentrum, eine Traumfabrik? Wach auf, du Nichtsnutz! |
Tistou | Ich... ich... hab 's nicht mit Absicht getan, Fräulein Lehrerin. |
Frau Kreidestaub | Was hast du nicht mit Absicht getan!? Sag mal, hast du fünfmal abgeschrieben, was an der Tafel steht? |
Tistou | verzweifelt: An der Tafel steht ihr Stock, Fräulein Lehrerin, ich weiß nicht, wie man den abschreibt. Ich weiß es nicht. Fünfmal einen Stock, der nur einmal da ist … |
Frau Kreidestaub | Unfug! Na ja, ist ja egal. Pack deine Sachen zusammen und geh. Ich habe mit deinen Eltern gesprochen und ihnen gesagt, dass du nicht mehr in die Schule zu kommen brauchst. Solche Buben wie dich können wir nämlich nicht betreuen. Da soll sich jemand anderes mit dir herumärgern. Geh jetzt. |
Tistou packt traurig seinen Schulranzen zusammen und geht mit hängendem Kopf ab.
Die Lehrerin schließt die Tür hinter ihm und geht ebenfalls ab.
5. Szene
Garten
Turner | ein prächtiges, johannisbeerschwarzes Pony. Es knabbert mit Vergnügen an einem Kleeblatt, das es im Maul trägt. . |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen; mit Schulranzen. |
Musik (CD, Nr. 3: Im Garten).
Im Garten tollt Turner umher,
bis Tistou vom Klassenzimmer durch die Kulissenstadt zum Garten gegangen ist.
Nun erklingt eine elegische Musik. Tistou sieht
sehr traurig aus.
Nachdem er seinen Schulranzen hingeworfen hat, setzt
er sich auf die Wiese,
bedeckt sein Gesicht mit den Händen und
schluchzt. Turner stupst Tistou mit der Schnauze.
Tistou | Ach Turner, mein liebes Pony. Weißt du, jetzt wollen sie mich nicht mehr in der Schule haben. Nur, weil ich einfach nicht verstehe, was man da für Sachen lernen soll. Ich glaube, ich bin dumm. Was werden bloß meine Eltern sagen. Was soll ich nur machen. Ich wollte sie doch nicht enttäuschen. |
Er legt seine Arme um Turners Hals und weint herzzerreißend.
Turner gibt Tistou das
Kleeblatt, reißt sich dann los und vollführt einige Kapriolen.
Kurze Pferdemusik.
Aber es hilft alles nichts. Tistou bleibt traurig.
Da lässt auch Turner den Kopf hängen und trollt sich davon. Die Musik verklingt.
6. Szene
Garten
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen; ohne Schulranzen. |
Schnurrebarbe | ein alter Mann mit einem ungeheuren schneeweißen Schnurrbart, der zu beiden Seiten ungefähr so groß und dick ist wie ein Fuchsschwanz und waagrecht absteht. Auf dem Kopf trägt Schnurrebarbe einen Gärtnerhut aus Stroh. Bekleidet ist er mit einem rot karierten Hemd, einer blauen Schürze und Gummistiefeln. |
Turner | wie in der vorhergehenden Szene. |
Schnurrebarbe kommt mit Schubkarre, Rechen und Gießkanne von hinten in den Garten.
Turner kommt angefetzt und begrüßt ihn.
Schnurrebarbe | Ah, Tistou! Hier bist du. Sag einmal, was machst du denn für ein Gesicht, mein Junge? |
Tistou | Guten Tag, Herr Schnurrebarbe. Ach ich bin traurig, weil … |
Schnurrebarbe | Ich weiß schon, deine Mama hat mir alles erzählt. Aber ich weiß noch was anderes: Ab sofort übernehme ich nun deine Erziehung. Von mir bekommst du in Zukunft deinen Unterricht. |
Tistou | Ach, das ist schön! Aber ich habe Angst. |
Schnurrebarbe | Wovor denn, Tistou? |
Tistou | Wenn ich wieder zu träumen und zu schlafen anfange, dann schicken sie mich bestimmt auch weg wie das Fräulein Kreidestaub |
Schnurrebarbe | Je nun, das wird sich zeigen. Jetzt komm erst einmal mit, ich will doch sehen, ob du schon was kannst: hier ist ein Haufen Gartenerde und dort stehen Blumentöpfe. Du füllst Erde in die Töpfe, drückst mit dem Daumen ein Loch in die Erde und schließlich stellst du die Töpfe an der Mauer entlang in einer Reihe auf. Nachher wollen wir die richtigen Samenkörner aussuchen und in die Löcher legen. |
Musik
(CD, Nr. 4: Tistou pflanzt).
Tistou macht sich mit sichtlichem Vergnügen und gar nicht müde an die Arbeit (vielleicht zur Musik tänzelnd),
Schnurrebarbe schaut ihm dabei zu und wehrt Turner ab,
der sich immer wieder an frischen Pflänzchen zu schaffen macht.
Tistou wird zugleich mit der Musik fertig.
Tistou | So, ich bin fertig! |
Schnurrebarbe | brummig: Gut, wir werden sehen. |
Schnurrebarbe begutachtet die Töpfe, nickt anerkennend, nimmt dann Tistou an der Hand und führt ihn durch den Garten.
7. Szene
Garten
Schnurrebarbe | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Schnurrebarbe redet mit den Pflanzen, indem er ein Lied singt.
Das soll so geschehen, dass das Publikum von den Blumentöpfen abgelenkt wird,
denn diese werden mechanisch ausgetauscht mit prächtigen, bunten Blumenstöcken.
Musik
(CD, Nr. 5: Schnurrebarbe)
Schnurrebarbe singt, pathetisch gestikulierend,
Tistou bewegt sich im Rhythmus dazu:
Na du kleine Nelke, wann machst du deine Knospe auf?
Und du, Gartenwinde, kletterst schon den Zaun hinauf!
Ei, du schöne Pfingstrose, du bist aber heut gut drauf.
Sonnenblume, meine Große, achte auf den Sonnenlauf!
Gänseblümchen, kleiner Kerl, du musst nicht so schüchtern sein,
Maiglöckchen, zartes Mädchen, deine Lieder klingen fein.
Birke, schlanker Himmelsstürmer, schaust ja in die Wolken rein?
Ranke zur Glyzinie, Efeu, die ist nämlich sehr allein!
Als die Musik verklungen ist, bleiben sie wie angewurzelt stehen
und blicken auf die blühenden Töpfe.
Schnurrebarbe | Was denn, was denn! Ich träume doch nicht?! Siehst du dasselbe wie ich, Junge? |
Tistou | Oh ja Herr Schnurrebarbe! |
Schnurrebarbe | Das ist nicht zu glauben. Man braucht normalerweise mindestens zwei Monate, um solche Pflanzen zu ziehen wie diese hier. |
Tistou | Aber wir haben doch noch gar keinen Samen in die Erde gelegt, wo kommen denn dann die Blumen her? |
Schnurrebarbe | Sonderbar, höchst sonderbar! Er begutachtet Tistous Finger: Zeig mir doch mal deine Daumen. Er untersucht sie von oben, von unten, im Schatten, im Licht. Zu Tistou gewandt: Mein Junge, du hast da etwas ebenso Überraschendes als auch Außergewöhnliches an dir: du hast grüne Daumen! |
Tistou | verdutzt: Grüne? Ich meine, sie sind eher rosa, und jetzt im Augenblick sogar ziemlich schmutzig. Aber doch nicht grün!? |
Schnurrebarbe | Sicher, sicher. Du kannst das nicht sehen. Das Grüne am Daumen ist unsichtbar. Das sitzt mehr unter der Haut. So etwas nennt man ein verborgenes Talent. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich bin nämlich Fachmann. |
Tistou | Und wozu ist das gut? |
Schnurrebarbe | Tja, das ist eine wunderbare Eigenschaft. Siehst du, es gibt überall Samenköner. Nicht nur in der Erde, sondern auch auf Hausdächern, Fensterbänken, Bürgersteigen, Zäunen, Mauern, in gewisser Weise auch in Menschenherzen und Menschenköpfen... aber das würde jetzt zu weit führen. Zum Publikum gewandt: Vielleicht merkt ja später der eine oder andere Zuschauer, wie eine Blume in ihm aufgeht. Zu Tistou: Wenn ein grüner Daumen eines dieser Körner berührt – das kann sein wo es will – dann wächst die Blume daraus hervor, fast im selben Augenblick! Übrigens hast du den Beweis vor dir: deine Daumen sind in der Blumentopferde auf Samen gestoßen … du siehst ja das Ergebnis. Ich beneide dich um deine Fähigkeit - mir hätte sie in meinem Beruf sehr genützt. |
Tistou | etwas traurig: Jetzt wird man erst recht sagen, ich sei nicht so wie andere Kinder. | Schnurrebarbe | Am besten, wir sagen niemandem etwas davon. Wozu Neugier und Eifersucht erregen? Verborgene Talente sind immer eine Gefahr – sie bringen einen Haufen Ärger ein, sonst nichts. So. Unsere Unterrichtsstunde ist jetzt beendet. Deinem Papa werde ich sagen, dass du gute Anlagen zum Gartenbau zeigst. Und jetzt geh bitte nach Hause. Dort wartet ein anderer Lehrer auf dich. Bis morgen dann! |
Tistou | Bis morgen, Herr Schnurrebarbe. |
Zwischenmusik (CD, Nr. 6: Tistou bewundert den Garten).
Schnurrebarbe geht ab,
Tistou schlendert trödelnd durch den Garten und sieht sich die Pflanzen an,
bevor er das nahegelegene Wohnzimmer betritt.
8. Szene
Wohnzimmer
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | ein sehr militärisch aussehender, altmodisch wirkender Mensch mit straffer Körperhaltung, einem Monokel, einem Spazierstock, den er hin und wieder wie ein Gewehr schultert, einigen Orden am Jackett seiner gepflegten Kombination, einer Fliege oder einem Halstuch und einer Helmut-Schmidt-Mütze oder Ähnlichem. Er legt ein explosives Temperament an den Tag, das heißt, er ist laut und cholerisch, aber loyal. |
Tistou | betritt das Wohnzimmer. |
Trommelpfiff | Aha, Tistou. Bitte noch einmal hinaus, und wieder herein. Diesmal mit angemessenem Gruß! |
Tistou | befolgt Trommelpfiffs Aufforderung: Guten Tag, Herr Trommelpfiff. |
Trommelpfiff | Schon besser. Guten Tag, Tistou. Dein Vater hat mich beauftragt, dir Unterricht in Recht, Pflicht, Gesetz und Ordnung zu geben. Er sieht auf seine Taschenuhr: Es ist exakt – er nennt die aktuelle Zeit – unsere Stunde dauert 60 Minuten, wie jede Stunde übrigens. Wir werden also um – er nennt die aktuelle Zeit plus 60 Minuten – den Unterricht beenden. Wir beginnen mit dem Thema "Die Stadt". Was ist mit deinem obersten Hemdenknopf? |
Tistou | Der steht offen. |
Trommelpfiff | Dann knöpfe ihn zu. Wer Ordnung hält, sieht auch ordentlich aus. |
Tistou | knöpft seinen Knopf zu. |
Trommelpfiff | Schon besser. Dann komm. Beide treten hinaus auf die Straße. |
9. Szene
Stadt, Gefängnis
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | wie in der vorhergehenden Szene. |
Trommelpfiff | ständig übertrieben laut: Eine Stadt besteht, wie du siehst, aus Straßen, Denkmälern, Häusern und Menschen, die in diesen Häusern leben. Was ist nach deiner Meinung das Wichtigste in einer Stadt? |
Tistou | Der Zoo. |
Trommelpfiff | Falsch! Das Wichtigste in einer Stadt sind Gesetz und Ordnung. Wir werden also zuerst das Gebäude besichtigen, durch das die Ordnung erhalten wird. Was ist Ordnung? |
Tistou | Ordnung ist, wenn man zufrieden ist. |
Trommelpfiff | ungeduldig: Hm. Beispiel? |
Tistou | Wenn Turners Stall ordentlich ausgemistet ist, macht das mein Pony zufrieden. |
Trommelpfiff | Und was macht man mit denen, die Unordnung anrichten? |
Tistou | zuckt mit den Schultern. |
Trommelpfiff | Die kommen ins Gefängnis – hier! – Er weist mit ausladender Geste auf eine graue Wand mit kleinen vergitterten Löchern. |
Musik (CD, Nr. 7: Gefängnismusik).
Sträflinge in Ketten werden durch die Stadt ins Gefängnis getrieben
Tistou | entsetzt: Wozu macht man das? |
Trommelpfiff | Damit die Gefangenen nicht weglaufen können. |
Tistou | Wenn das Gefängnis nicht so hässlich wäre, würden die Gefangenen vielleicht gar nicht weglaufen. |
Trommelpfiff | stampft mit dem Fuß auf: Ein Gefangener ist ein böser Mensch. |
Tistou | Ach so... und man setzt ihn ins Gefängnis, um ihn von seiner Boshaftigkeit zu heilen? |
Trommelpfiff | Man versucht es wenigstens. |
Tistou | aufgeregt: Wenn das Gefängnis nicht so furchtbar hässllich wäre, könnten die das doch viel schneller gesund werden! |
Trommelpfiff | Schluss jetzt! Wo kämen wir hin, wenn es die Verbrecher schöner hätten als die Armen. |
Tistou | Die Armen? |
Trommelpfiff | Jawohl! Komm einmal mit. |
10. Szene
Stadt, Armenviertel
arme Leute | mit Mülltüten, Leiterwagen etc. |
Mutter mit Kind | hungrig aussehend. |
Kind mit Bauchladen | versucht, wertloses Zeug zu verkaufen. |
ein blinder Bettler | mit dunkler Brille, Armbinde und Stock; in abgerissenem Mantel. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | wie in der vorhergehenden Szene. |
Trommelpfiff nimmt Tistou am Ärmel und zieht ihn zum Armenviertel.
Es besteht aus windschiefen Brettern, Wellblech etc.
Armselig Gekleidete bevölkern die Kulissenstadt,
streiten, betteln, hängen Lumpen zum Trocknen auf.
Musik (CD, Nr. 8: Armenmusik)
Wenn die Musik verklingt, verschwinden die Akteure in den Kulissen.
Tistou | Oh weh, was ist denn das? |
Trommelpfiff | Das denke ich mir, dass ein wohlbehüteter Junge wie du das Elend nicht kennt. |
Tistou | Das Elend? |
Trommelpfiff | Das Barackengebiet ist eine wahre Geißel. |
Tistou | Was ist eine … Geißel? |
Trommelpfiff | Eine Geißel nennt man ein großes Unglück, von dem viele Menschen betroffen werden. Sieh es dir nur an. |
Tistou | Aber weshalb wohnen die Leute alle in diesen Karnickelställen? |
Trommelpfiff | Weil sie kein anderes Haus haben, natürlich. Dumme Frage! |
Tistou | Und warum haben sie kein Haus? |
Trommelpfiff | Weil sie keine Arbeit haben. |
Tistou | Und warum haben sie keine Arbeit? |
Trommelpfiff | Weil sie kein Glück haben. |
Tistou | Also haben sie überhaupt nichts? |
Trommelpfiff | Allerdings, Tistou - und das ist eben das Elend. |
Tistou | Macht das Elend die Menschen böse? |
Trommelpfiff | Meistens. |
Tistou | Und dann kommen sie in ins Gefängnis? |
Trommelpfiff | ungeduldig: Natürlich. Also weiter in unserer Lektion. Was ist das wichtigste Mittel zur Bekämpfung des Elends und seiner finsteren Folgen? Na? Noch ungeduldiger: Ge … Ge … |
Tistou | Vielleicht Geld? |
Trommelpfiff | ungehalten: Nein! Gesetz und Ordnung natürlich! |
Tistou | etwas naseweis: Herr Trommelpfiff? Glauben Sie, dass es Ihre Ordnung wirklich gibt? Ich nämlich nicht! |
Trommelpfiff | stampft zornig mit dem Fuß auf. |
Tistou | Nämlich: Wenn es Ordnung wirklich gäbe, dürfte gar kein Elend möglich sein. |
Trommelpfiff | leicht verunsichert: Das diskutieren wir morgen. Die Stunde ist um! Deinem Papa werde ich sagen: das Kind ist spitzfindig. Es muss überwacht werden, denn es stellt schon zu viele Fragen. So. Und jetzt ab mit dir! |
11. Szene
Stadt, Gefängnis, Armenviertel
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou | Zum Publikum: Wie wäre es, wenn ich für die Gefangenen ein paar Blumen wachsen ließe? Das würde die Ordnung ein wenig verschönern. Die kann es bestimmt brauchen. Und vielleicht würden die Gefangenen ein wenig braver und vernünftiger. Soll ich meine grünen Daumen auch für die armen Leute ausprobieren? Vielleicht lässt sich das Elend ein wenig durch die Schönheit verscheuchen? Vielleicht zieht dann das Glück in die Hütten? |
Blumenmusik (CD, Nr. 9: Tistou lässt Blumen wachsen)
Tistou geht zum Gefängnis und berührt alles mit seinen Daumen. Sofort erblühen Blumen.
Am Barackenviertel tut er desgleichen. Auch hier entsteht augenblicklich eine Blütenpracht.
(Der Phantasie und dem Können des Bühnenbildners sind keine Grenzen gesetzt!)
Tistou geht beschwingt nach Hause.
Passanten laufen zusammen und staunen über das Wunder.
Blumengeschmückte Gefangene treten vor das Gefängnis,
arme Leute tragen üppige Bouquets.
Überdrehte Touristen tauchen auf. Ausrufe sind zu hören: Oh! Ah! Was ist denn das?
Phantastic! Wonderful! etc.
Die Musik reicht in die 12. Szene hinein.
12. Szene
Stadt
Passanten | in Alltagskleidung. |
Extrazeil | Zeitungsverkäufer mit Schirmmütze, einem weißen Hemd mit Gummibändern an den Oberarmen (um die Armel zu kürzen), mit Lederhosen und Kniestrümpfen. |
Zwei Zeitungsjungen | wie Extrazeil gekleidet. |
Die Zeitungsverkäufer verteilen Flugblätter an das Publikum,
in denen die Ereignisse in Schlagzeilen aufgelistet sind.
Die Schlagzeilenmusik (CD, Nr. 10: Erster Zeitungssong) folgt direkt auf die Blumenmusik
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Wer kennt den Täter, wer die Tat? Letzte Meldung! Extrablatt! Der weiß Bescheid, wer Zeitung hat! Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Das Wunder von Kimmelkorn! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Barackenbewohner verlangen Eintritt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Vollbeschäftigung im Elendsviertel! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Die Bewohner finden Arbeit! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Als Fremdenführer! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Gärtner!. | 1. Zeitungsjunge | ruft: Aufseher! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Fotografen! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Postkartenverkäufer! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Das Blumenwunder in der Stadt! Letzte Meldung! Extrablatt! Die Fachwelt weiß sich keinen Rat! Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Gefängnistore lassen sich nicht mehr schließen! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Die Ranken sprengen alle Gitter! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Kein Gefangener entflieht! |
2. Zeitungsjunge | ruft: jeder fühlt sich wohl! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Und will sich bessern! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Letzte Meldung! Extrablatt! |
Pause
Handwerker | in Blaumännern. |
Passanten | wie in der vorhergehenden Szene. |
Touristen aller Nationen | entsprechend gekleidet. |
Arme | wie in der 10. Szene, jedoch mit Bauchläden, voll mit Blumengebinden, Früchten und Gemüse. |
Straßenmusikant | in Hippie-Outfit |
Zootiere | zum Beispiel ein Bär, ein Tiger, ein Äffchen. |
ein Zoowärter | in Uniform. |
Während die Passanten noch das Blumenwunder bestaunen, |
2. Akt
13.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
zwei Stadträte | in honoriger Kleidung oder Uniform. |
Die Stadträte und Monsieur Papa stehen schon seit der Pausenmitte im Wohnzimmer,
trinken Sekt und gestikulieren, als ob sie sich in einem harten Streitgespräch befinden.
1. Stadtrat | Nein, nein und abermals nein! |
Monsieur Papa | Aber Herr Stadtrat! Es ist nicht richtig, sich derart aufzuregen. Außerdem ist es immer gefährlich, mit Ärger und Wut gegen Sachen vorzugehen, die man nicht versteht. |
2. Stadtrat | Aber wo kommen wir denn hin, wenn überall Blumen wuchern! Wo bleibt denn da die Ordnung: Diese Blumen wachsen nämlich, wo sie wollen. Das heißt, sie wachsen unordentlich! |
1. Stadtrat | Genau, mein Herr von der Opposition! Endlich sind wir einmal gleicher Meinung: Unordnung ist schließlich gegen das öffentliche Interesse! |
2. Stadtrat | Also weg mit dem Wildwuchs! |
1. Stadtrat | Vertilgen! Umpflügen! |
2. Stadtrat | Vernichten! Verbrennen! Entwurzeln! |
Monsieur Papa | Aber meine Herren, meine Herren! Niemand von uns kennt die Ursache dieser plötzlichen Blumeninvasion. Die Blumen ausreißen? Wer garantiert uns, dass sie morgen nicht schon wieder hochgeschossen sind, womöglich mit doppelter Kraft? Außerdem muss man anerkennen, dass diese neuen Blumengärten eher nützlich als schädlich sind. Unsere Gefangenen brechen nicht mehr aus, unser Barackenviertel wird angesehen und wohlhabend, Touristen kommen aus aller Welt, um das Wunder von Kimmelkorn zu sehen. |
2. Stadtrat | Ja, da ist was dran … |
Monsieur Papa | Gehen wir doch den Ereignissen entgegen, anstatt ihnen hinterherzurennen: Nennen wir doch unsere Stadt ab sofort "Kimmelkorn-in-den- Blumen … |
1. Stadtrat | "Kimmelkorn-in-den-Blumen"? Was soll denn das? |
Monsieur Papa | …denn (bei Aufführungen im Freien: er deutet auf einen Kirchturm oder ein öffentliches Gebäuude in der Nähe des Aufführungsortes) wer garantiert uns, dass sich morgen zum Beispiel das Dach unseres Rathauses nicht in einen riesigen Fliederstrauß verwandelt? Und wenn unsere Stadt dann "Kimmelkorn-in-den-Blumen" heißt, können wir sagen, wir hätten diese Verschönerung schon seit langem im Haushaltsplan vorgesehen, und stünden in jedem Falle gut da. |
beide Stadträte | aufgeregt gestikulierend und durcheinanderredend: Hurra! Das ist die Lösung! Genau! etc. etc. Stadträte gehen ab und unterhalten sich dabei euphorisch. Man hört Wortfetzen wie "Es muss eine Verlautbarung an die Presse", "wir brauchen ein 10-Punkte-Programm", "man muss einen Blumenumzug organisieren", "eine Bewerbung zur Bundesgartenschau einreichen", "eine Blumenhymne komponieren", "den Dirigenten der Blaskapelle damit beauftragen", "eine Sondersitzung einberufen" … |
14.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Madame Mama | in einem eleganten Kleid. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Monsieur Papa nippt selbstzufrieden an seinem Sekt und trällert ein Liedchen :
(CD, Nr. 11: Tistous Papa ist gut gelaunt)
er singt:
Kimmelkorn-in-den-Blumen bringt uns hohe Summen.
Kimmelkorn-in-den-Blümchen bringt uns hohe Sümmchen.
Kimmelkorn-in-den-Blümelein bringt uns hohe Sümmlein ein.
Kimmelkorn-in-den-Blümelchen bringt und hohe Sümmelchen ein!
Madame Mama betritt das Wohnzimmer
Madame Mama | Na Liebling, du scheinst blendender Laune zu sein! |
Monsieur Papa | Jawohl, mein Schatz, denn heute ist ein Festtag. Unsere Stadt heißt nämlich ab sofort "Kimmelkorn-in-den-Blümblumel" äh "Blumen" und weißt du, was? Weil heute das Wetter so schön ist, gehen wir mit Jean-Baptiste auf einen Ausflug in den Zoo! |
Madame Mama | Das ist eine gute Idee, Liebling. Tistou! Tistou! |
Monsieur Papa | zischelt seiner Frau halb ärgerlich, halb amüsiert zu: Jean-Baptiste! |
Madame Mama | leise: Jean-Bap- laut: Tiste, du! Kommst Du? |
Tistou | betritt das Wohnzimmer: Ja was ist? (Das soll klingen wie "Jean-Baptiste", im Tonfall von Monsieur Papa. |
Monsieur Papa | resignierend zu sich selbst: Ich geb 's auf. Zu Tistou: Wir besuchen den Zoo, mein Sohn. Freust du dich? |
Tistou | Oh ja! |
Alle drei gehen ab und unterhalten sich dabei. Man hört Wortfetzen wie "einen Mantel ziehe ich aber nicht an!", "Brauchen wir einen Regenschirm?" "Soll ich das kurze Schwarze anziehen oder das elegante Kostüm?" etc. etc.
15.Szene
Stadt, Zoo
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Madame Mama | wie in der vorhergehenden Szene. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Zootiere | iseit der Pause in den Käfigen. |
Zoowärter | in Uniform. |
Passanten | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Der Zoowärter tritt auf:
er stellt vor dem Zoo ein Tischchen auf - eine Art Verkaufsstand.
Passanten kommen herbei und lösen Eintrittskarten beim Zoowärter.
Man hört Wortfetzen wie "Heute ist aber ein besonders schönes Wetter!".
"Und geben sie mir noch zwei von diesen Ansichtskarten!".
"Und eine Tüte Bonbons!".
"Sei still, jetzt gibt es keine Bonbons!".
"Aber ein Eis!" etc. etc.
Währenddessen spazieren Tistous Eltern mit ihrem Sohn durch die Kulissenstadt.
Sie halten sich an den Händen, Tistou in der Mitte.
Auf ihrem Weg zum Zoo kommen sie am Elendsviertel und am Gefängnis vorbei.
Die Eltern bleiben staunend stehen, reiben sich ungläubig die Augen und schütteln die Köpfe.
Tistou tut gelangweilt.
Wenn sie am Zoo angekommen sind, erklingt Musik:
(CD, Nr. 12: Im Zoo).
Die Zootiere kommen ans Gitter, bewegen sich schleppend und lassen ihre Köpfe hängen.
Tistou | zu seinen Eltern: Oh weh, die sehen aber traurig aus! |
Die Zootiere singen:
Wir sind aus Europ' und aus Afrika,
aus 'tralien und aus 'merika,
Nord-Süd-Pola' und Asia
und jedes Tier hat Heimweh hier.
Und jedes Tier hat Heimweh hier.
1. Zootier | singt: Wo ist der Duft des Urwalds? |
2. Zootier | singt: Wo ist der Klang des Wasserfalls? |
3. Zootier | singt: Wo sind uns're Blüten? |
3. Zootier | singt: Wo können wir die Kinder hüten? |
Die Zootiere singen:
Es ist schlimm.
Kahler harter Boden,
Kratzen ist verboten.
Sind wir denn nichts wert,
dass man uns einsperrt?
Wer fragt uns, ob uns das gefällt?
Das ist keine schöne Welt,
keine schöne Welt.
Die Musik verklingt.
Tistou | entsetzt: Was ist denn mit denen los? |
Monsieur Papa | Du fragst, was mit denen los ist? Was soll schon los sein? Die sind eben hier, damit wir Menschen sie bewundern können. Ihre Kraft, ihre Schönheit … |
Tistou | Das sieht man doch aber auch alles im Fernsehen und im Biologiebuch! Herr Trommelpfiff sagt, dass alles seine Ordnung haben muss. Und ein Tiger und ein Affe gehören eigentlich in den Dschungel und nicht in den Zoo! |
Monsieur Papa | Da magst du recht haben, aber es gibt auch eine übergeordnete Ordnung, Und die besagt, dass Zootiere in den Zoo gehhören und somit in den Käfig. |
Tistou | wendet sich traurig ab: Lasst uns nach Hause gehen: solch eine Überordnung verstehe ich nicht. Hier mag ich nicht länger sein. |
Monsieur Papa | zu seiner Frau: Trommelpfiff hat recht. Dieses Kind ist wirklich schwierig. Und neunmal neunmalklug dazu. Er hält sich den Magen und macht ein schmerverzerrtes Gesicht. |
Madame Mama | Lass ihn doch. Und reg dich nicht auf. Denk an deinen Magen. Und übrigens … hat er nicht irgendwie recht, unser Tist…? |
Monsieur Papa | Jean-Bap! |
Die Familie geht zurück nach Hause.
Musik (CD, Nr. 12: Im Zoo)
16.Szene
Garten
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Turner | iwie in den vorhergehenden Szenen. |
Schnurrebarbe | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou betritt den Garten.
Musik (CD, Nr.13: Wieder im Garten)
Tistou | Turner! Turner! |
Das Pony kommt angetanzt und begrüßt stürmisch seinen Herrn. Die Musik verklingt.
Tistou | Ach Turner, mein Freund. Wenn ich dir erzähle, wo ich gerade herkomme. Im Zoo sind so viele traurige Tiere. Denen möchte ich so gerne helfen. Aber dir geht 's doch gut, mein Turner? |
Turner | nickt heftig mit dem Kopf. |
Tistou | Du fühlst dich wohl, weil du so einen schönen Garten hast? |
Turner | nickt heftig mit dem Kopf. |
Tistou | Meinst du, wenn ich für die Zootiere auch ein paar Blumen wachsen ließe … denen würde es besser gehen? |
Turner | wiegt nachdenklich seinen Kopf. |
Schnurrebarbe | betritt den Garten. |
Tistou | zum Publikum: Meint ihr, ich soll es versuchen? |
Schnurrebarbe | Natürlich sollst du es versuchen, Tistou. Siehst du, wenn du dem Affen einen Affenbrotbaum wachsen lässt oder dem Elefanten ein Elefantengras, dem Tiger eine … denkt kurz nach … Tigerlilly, dem Stachelschwein einen Kaktus, dann fühlen sich die Tiere bestimmt viel besser... |
Tistou | Und wenn jetzt herauskommt, dass ich es bin, der die Blumen wachsen lässt, dann gibt es eine schlimme Geschichte. Schließlich war ich am Gefängnis, im Elendsviertel, und nun im Zoo … wenn die mir auf die Spur kommen, Trommelpfiff zum Beispiel? Was ich tue, ist doch gegen Recht und Pflicht und Ordnung und … ach … |
Schnurrebarbe | Keine Angst. Die Leute können sich so etwas nicht vorstellen. Sie kennen sich nicht aus mit Blumen. Die meisten sind nicht einmal in der Lage, einen Blumenstrauß zu binden. Die finden bestimmt nichts heraus. Da wette ich meinen Schnurrbart gegen ein Rasiermesser. |
Tistou | Herr Schnurrebarbe? Sie meinen also … |
Schnurrebarbe | Selbstverständlich. Aber weißt du, du solltest in Zukunft auch auf den Duft achten, wenn du Pflanzen wachsen lässt. Probier 's mal mit Jasmin, der riecht gut! Und sei vorsichtig, wenn du zum Zoo gehst: es muss dich ja nicht unbedingt jemand sehen. Mach's, wenn die Leute schlafen. |
Schnurrebarbe geht ab.
Turner stupst Tistou: auch er gibt sein Einverständnis.
Tistou | zu Turner Weißt du, was die Blumen und auch die Pflanzen tun? Ich glaube, die verhindern dass das Böse wächst. |
Turner | nickt heftig mit dem Kopf. |
Tistou legt seinen Arm um das Pony. Beide gehen ab.
17.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Madame Mama | wie in der vorhergehenden Szene. |
Die beiden sitzen seit Beginn der 16. Szene im Wohnzimmer und sehen fern. Ein Fernseher läuft (Videoaufzeichnung). Gezeigt wird eine aktuelle politische Reportage über einen aktuellen Krieg (da gibt es ja auf unserem Planeten immer irgendwo mindestens einen), allerdings ohne Ton. Monsieur Papa verfolgt interessiert das Geschehen, während seine Gattin eher gelangweilt in einer Illustrierten blättert ("Brigitte" oder ähnliches)
Monsieur Papa | schaltet mit der Fernbedienung das Gerät aus. Hast du gesehen Liebling: Gehwegs und Kommhers scheinen einen Krieg anzufangen. Ich werde morgen früh gleich die Generäle der beiden Gegner anrufen und ihnen ein günstiges Waffensonderangebot unterbreiten. Das wird bestimmt ein gutes Geschäft, denn wenn beide Parteien gleichwertige Waffen haben, dauert ihr Krieg hübsch lang und ich kann ihnen immer neue Munition nachliefern. Dann erhöhe ich den Lohn unserer Arbeiter: und das macht unsere Stadt noch reicher und schöner. Welch ein Glück. |
Madame Mama | Das freut mich für dich Schatz. Obwohl: Krieg ist eine schlimme Sache. |
Monsieur Papa | Für die Betroffenen ja! Aber für uns ist es ein erfreuliches Geschäft, das uns Wohlstand bringt. Alles hat seine zwei Seiten Liebling, das weißt du doch auch recht gut |
Madame Mama | Hast ja recht, Schatz. Aber lass uns jetzt schlafen gehen. Es ist schon spät. Und wenn du morgen so viel zu tun hast … |
Monsieur Papa | Ja gehen wir. |
Beide ab. Im Hinausgehen hört man Wortfetzen einer Unterhaltung.
"Wann stehen wir auf?" "Um sechs!" "Möchtest du ein Ei zum Frühstück?" etc. etc.
18.Szene
Stadt, Zoo
Tistou | im Schlafanzug. |
Zootiere | seit der Pause im Käfig. |
Musik (CD, Nr. 14: Tistou schleicht zum Zoo)
Tistou schleicht von der Wohnung durch die Stadt zum Zoo.
Dort berührt er die Gitterstäbe des Käfigs. Die Tiere kommen nach vorn an das Gitter. Jedes Tier trägt riesige Blumensträuße aus Krepp.
Versteckte Räucherstäbchen und Duftlampen werden angezündet.
(Dies ist nur ein Vorschlag: der Phantasie und dem Können des Bühnenbildners sind keine Grenzen gesetzt!
Wie auch immer: schließlich sieht man nichts mehr von den Gittern, nur noch Blumen,
und schwerer, süßer Duft liegt im Zuschauerraum.
Tistou schleicht zurück zur Wohnung.)
19.Szene
Stadt
Passanten | in Alltagskleidung. |
Zoowärter | in bunt geschmückter Uniform. |
Zootiere | seit der Pause im Käfig. |
Extrazeil | wie zuvor. |
zwei Zeitungsjungen | wie zuvor. |
Die Musik aus der 18. Szene reicht in die 19. Szene hinein.
Passanten bewundern den Zoo mit Gesten und Ausrufe des Erstaunens.
Der Zoowärter lässt die Tiere aus dem Käfig.
Die rennen ins Publikum und vollführen einige Kapriolen (setzen sich bei Besuchern auf den Schoß, schmeicheln sich ein, fauchen, kreischen, brummen, jedes nach seiner Art).
Auf einen Pfiff des Zoowärters hin kehren sie zurück und werden vom Wärter nach draußen hinter die Bühne gebracht.
Unmittelbar hierauf folgt die Schlagzeilenmusik (CD, Nr. 15: Zweiter Zeitungssong.)
Wie schon oben (12. Szene) verteilen die Zeitungsverkäufer Flugblätter, in denen die Ereignisse in Schlagzeilen aufgelistet sind, an das Publikum.
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Der weiß Bescheid, wer Zeitung hat! Letzte Meldung! Extrablatt! Neuigkeiten prall und satt! Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Krieg zwischen den Kommhers … |
2. Zeitungsjunge | ruft: und den Gehwegs … |
1. Zeitungsjunge | ruft: ist nicht mehr zu verhindern! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Grenzverletzungen! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Mobilmachung! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Wer setzt seinen Gegner matt? Letzte Meldung! Extrablatt! Gibt 's ein Remis, gibt 's gar ein Patt? Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Der Dow Jones schnellt in die Höhe! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Der Goldpreis steigt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Bombenstimmung an den Börsen! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Letzte Meldung! Extrablatt! |
20.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | im Morgenrock. |
Madame Mama | im Morgenrock. |
Monsieur Papa | Guten Morgen Schatz. |
Madame Mama | Guten Morgen Liebling. Sag mal, wo ist denn unser Tist... |
Monsieur Papa | fällt ihr ärgerlich ins Wort: Bap! Äh Jean... Donner und Granaten nochmal. Der heißt nicht Tistou. Ja, wo ist er? Der ist doch sonst immer als erster auf den Beinen! |
Madame Mama | Ich geh mal nachschauen. Oh! Oh, ich glaube, ich bekomme meine Migräne. Oh! Sie geht ab. |
Monsieur Papa | greift sich die Zeitung (Börsenblatt aus der zweiten Szene) Aha, hier steht's: Gehwegs und Kommhers: Krieg nicht mehr zu vermeiden.Blättert zerstreut in der Zeitung … Gut ich werde mich dann gleich an die Arbeit machen: Kanonenproduktion verdoppeln, fertige Waffen verpack … plötzlich erstaunt Was ist denn das? "Das Wunder von Kimmelkorn-in-den-Blumen geht weiter. Zoo verwandelt sich in Dschungel"? Gut, gut, jetzt haben wie also auch noch einen Urwald. Aber es gibt Wichtigeres. Ich muss Trommelpfiff Anweisungen geben.Geht zum Telefon, beginnt zu wählen. |
Madame Mama | kommt ins Wohnzimmer: Liebling, unser... äh... hält sich den Kopf du weißt schon, unser Sohn… |
Monsieur Papa | legt den Hörer auf die Gabel. Was ist mit Tistou? |
Madame Mama | Mit wem? |
Monsieur Papa | Mit Tist … Hagel und Granaten! |
Madame Mama | Jean-Baptiste scheint krank zu sein. |
Monsieur Papa | Wieso? Das war er doch noch nie? |
Madame Mama | Ja, er sieht aus, als hätte er in der Nacht nicht geschlafen. Er ist blass und hat fiebrige Augen. |
Monsieur Papa | Schick ihn sofort zu Doktor Vielübel. Das ist ein Spezialist. Lass dich aber nicht abwimmeln. Er glaubt einerseits, dass wir eingebildete Kranke sind, andererseits ist er mir zu Dank verpflichtet. Du weißt ja, er bekam von unserer Waffenfabrik damals die große Spende für den Neubau seines Krankenhauses. Reib ihm das ruhig unter die zerstreute Nase! |
Madame Mama | Ist gut, Liebling. Ich ziehe Tistou an und gehe dann gleich mit ihm zum Doktor. |
Monsieur Papa | Und ich mache mich auf den Weg in die Fabrik. Dort finde ich Trommelpfiff: Der Krieg ruft! |
Beide ab.
21.Szene
Stadt, Krankenhaus
Madame Mama | in Ausgehkleidung, die in allen Teilen en vogue ist, jedoch nicht übertrieben auffällig. |
Tistou | mit Wollmütze; außerdem schwer verpackt in Mäntel und Decken, darunter trägt er Alltagskleidung. |
Doktor Vielübel | im weißen Arztkittel, mit einem Stethoskop und einer dezenten Hornbrille, sieht genauso aus wie Schnurrebarbe (wird auch vom selben Schauspieler gespielt), nur ohne Bart; er wirkt zerstreut, aber durchaus kompetent. |
Malisa | im Nachthemd, mit bleichem Teint und lockigem dunklem geöffnetem Haar; sie liegt im Bett und hält ihren Blick ständig fest nach oben gerichtet; das kranke Mädchen ist etwa so alt wie Tistou. |
Musik (CD, Nr.16: Auf dem Weg zum Doktor).
Madame Mama und Tistou gehen vom
Wohnzimmer durch die Stadt zum Krankenzimmer.
Auf dem Weg dorthin bleibt Madame Mama einen Moment lang staunend vor dem Zoo stehen.
Tistou tut gelangweilt.
Seit Beginn der 20. Szene liegt das kranke Mädchen in einem Hospitalbett.
Doktor Vielübel sitzt mit einem Clipboard an ihrer Seite und macht sich Notizen.
Wenn Madame Mama und Tistou ankommen, erhebt sich der Doktor.
Musik (CD, Nr. 17: Dr. Vielübel)
Doktor Vielübel singt:
Schönen guten Tag gnä' Frau.
Verschafft mir Ehre Ihr Besuch?
Macht Ihr Darm noch arg Radau
und hatten Sie schon Leistenbruch?
Wie geht es der Migräne?
Was macht der Magen des Gemahls?
Haben Sie schon neue Pläne
oder einen wunden Hals?
Madame Mama | spricht, während die Musik ausklingt: Ach, deshalb bin ich nicht gekommen, lieber Herr Doktor... obwohl Sie mir wieder ein Rezept für diese wunderbaren Pillen ausstellen könnten. Eigentlich bin ich hier wegen Tistou. Der macht mir Sorgen. |
Doktor Vielübel | Dann komm doch einmal her, mein Junge. Wo tut 's uns denn weh? |
Tistou | höflich: Guten Tag, Herr Doktor Vielübel. Hier bin ich einmal: zweimal könnte ich sowieso nicht herkommen, zumindest nicht im selben Moment. Wo es euch weh tut, weiß ich nicht, aber mir fehlt nichts, ich bin ganz gesund. Außer, dass mir fürchterlich heiss ist. |
Doktor Vielübel | zu Madame Mama: Ein interessantes Kind. Hat gute Anlagen zu einer Verbalneurose. Zu Tistou: Hast du Fieber oder brauchst du ein Eis? |
Tistou | Nein, nein, ich bin nur zu warm angezogen und – er wirft die Decken und den Mantel zu Boden – und ich war ja noch nie krank, bloß: heute Nacht habe ich schlecht geträumt von armen traurigen Zootieren... und dann konnte ich keine Ruhe mehr finden. |
Doktor Vielübel | zieht Tistou die Wollmütze vom Kopf: Ich seh 's dir schon an, dass dir nur eine Mütze Schlaf fehlt. Darum wollen wir dir mal glauben. |
Tistou | gedehnt: Herr Doktor? |
Doktor Vielübel | Ja, mein Junge? |
Tistou | Wissen Sie, dass Sie wie unser Gärtner, der Herr Schnurrebarbe aussehen? |
Madame Mama | Sei nicht so vorlaut, Tistou! |
Doktor Vielübel | Lassen Sie ihn, er hat ja recht. Weißt du, Tistou, das hängt vielleicht mit unserer Arbeit zusammen. Wir haben beide mit dem Leben zu tun: Schnurrebarbe mit dem Leben der Blumen und ich mit dem Leben der Menschen. Aber es ist so schwierig, sich um das Leben der Menschen zu kümmern: ständig liegt eine Krankheit auf der Lauer und will sich in einen Menschen einschleichen. Und ständig ist die Gesundheit auf der Flucht; und ich muss versuchen, sie wie ein Schmetterlingsfänger immer wieder zu erwischen. Und manchmal habe ich eben gar keinen Erfolg. Wie mit dem kranken Mädchen hier: Malisas Beine wollen nicht gehen. Wenn du willst, kannst du ihr ein wenig Gesellschaft leisten. Ich werde deiner Mama einstweilen im Sprechzimmer nebenan ein Migränerezept ausstellen und ihre Brille äh …Pille äh …untersuchen. |
Madame Mama | Ein Pillenrezept gegen Migräne, Herr Doktor. |
Doktor Vielübel | Migränepillen auf Rezept. Sag ich doch! |
Madame Mama | Tistou, wenn dir nichts fehlt, kannst du ja später alleine nach Hause gehen. Ich habe sowieso noch Besorgungen zu machen und ich weiß, wie dich das langweilt. Also Tschüs! |
Tistou | Tschüs Mama! |
Doktor Vielübel und Mama gehen ab.
22.Szene
Krankenhaus
Tistou | in Alltagskleidung. |
Malisa | wie in der vorhergehenden Szene. |
Doktor Vielübel | wie in der vorhergehenden Szene. |
Tistou | Darf ich mich zu dir setzen? |
Malisa | teilnahmslos: Wenn du willst. |
Tistou | setzt sich auf den Stuhl. Der Doktor Vielübel hat mir erzählt, dass deine Beine nicht gehen wollen. Ist es denn schon besser geworden, seitdem du hier bist? |
Malisa | Nein. Aber das ist nicht schlimm. |
Tistou | Warum nicht? |
Malisa | Weil ich sowieso nicht weiß, wo ich hingehen soll. |
Tistou | Ich habe einen Garten zu Hause. |
Malisa | Da hast du aber Glück. Wenn ich einen Garten hätte, hätte ich bestimmt auch Lust, gesund zu werden. Schon, um im Garten spazieren gehen zu können. |
Tistou | schaut seine Daumen an; zum Publikum: Soll ich ihr ein paar Blumen machen? Zu Malisa: Ist es dir nicht zu langweilig hier? |
Malisa | Nicht sehr. Ich sehe mir die Zimmerdecke an und zähle die kleinen Risse darin. Und manchmal muss ich über den zerstreuten Doktor lachen. |
Tistou | Aber du bist wenigstens nicht unglücklich? |
Malisa | Um zu wissen, ob man unglücklich ist, müsste man wenigstens einmal glücklich gewesen sein. Ich bin schon krank, seit ich auf der Welt bin. |
Tistou | Bekommst du Besuch? |
Musik (CD, Nr. 18: Malisa)
Während Malisa singt, steht Tistou auf und zieht aus allen erdenklichen Ecken Blumen hervor,
legt eine blumige Bettdecke auf etc.
(der Phantasie und dem Können des Bühnenbildners sind keine Grenzen gesetzt!)
Malisa spricht:
Oft!
Sie singt:
Morgens vor dem Frühstück kommt die Thermometer-Tante:
(sie äfft ein wenig die Thermometer-Tante nach
"Haben wir heut Fieber? Malisa mach mir keine Schande."
Dann kommt Schwester Pinguin, stellt heiße Schokolade hin
und Marmeladenbrote, zwei gelbe und zwei rote.
Dann kommt Doktor Vielübel, ist freundlich, leise und zerstreut
und schenkt mir ein Bonbon, was mich ganz besonders freut.
Dann kommt Schwester Nickelbrille, bringt mir meine Mittagspille und ein feines Essen.
Dann kommt Bruder Baskenmütze, gibt mir eine Aua-Spritze und ein Buch zum Lesen.
Malisa spricht:
Und dann kommt noch ein Herr im weißen Kittel,
der immer so tut, als ginge es mit meinen Beinen schon besser.
Er schnürt sie mit Bindfäden zusammen, damit sie sich beugen.
Und alle sagen, dass es schon viel besser wird und ich gesund werde.
Aber ich schaue nur zur Zimmerdecke hinauf.
Die erzählt mir wenigstens keine Lügengeschichten.
Die Musik endet.
Musik (CD, Nr. 19: Blumen für Malisa)
Tistou hat mittlerweile seine Arbeit beendet.
Malisa hat jedoch noch nichts von der Blumenpracht entdeckt,
da sie ständig nach oben sieht.
Tistou | Tistou spricht während der Musik: Ich glaube übrigens wirklich, dass du gesund wirst. Dann kannst du mich in meinem Garten besuchen. Ich habe auch ein ganz liebes Pony: mit dem darfst du herumspringen; und wenn es dich mag, darfst du auch reiten. Es heißt Turner. Tistou nimmt Malisas Hände Du wirst bestimmt gesund. |
Malisa | Du glaubst es auch? |
Tistou | gibt ihr einen Blumenstrauß in die Hand. Ja! Ganz bestimmt! Ich muss jetzt gehen. Sieh dich mal im Zimmer um. |
Tistou läuft durch die Stadt in den Garten.
Malisa blickt sich um, setzt sich dann mühsam auf und bestaunt die Blütenpracht.
Die Musik endet.
Musik (CD, Nr. 20: Der Doktor wundert sich).
Doktor Vielübel betritt das Zimmer.
Er drückt mit Gesten höchstes Erstaunen aus und singt dabei:
Ja, was ist denn hier gescheh'n?! Lisa, ' hast dich aufgesetzt.
Kann ich so 'was noch versteh'n? Hast du dich am Kopf verletzt
oder war es ein Verseh'n: Hab ich das falsch eingesetzt?
Du bewegst ja deine Zeh'n …
Er spricht:
Woran das wohl liegt?
Zum Publikum:
Wisst ihr, woran das liegt?
zu Malisa:
Glaubst du auch, dass das an den Blumen liegt?
Dass du sitzt? Ich glaube, ich glaube: Malisa, du kannst jetzt bald stehen.
Und ich kann dann gehen … Jetzt ist die Krankheit halb besiegt.
Kann ich sowas noch verstehen?
Er verlässt in höchster Aufregung das Krankenzimmer:
Schwester! Schwester!
Malisa erhebt sich mühsam vom Bett
und verlässt langsam auf unsicheren Beinen das Krankenzimmer.
Die Musik verklingt.
23.Szene
Garten
Tistou | wie in der vorhergehenden Szene. |
Turner | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Schnurrebarbe | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou ist im Garten angekommen.
Tistou | zum Publikum Uh, war mir heiß vorhin. Wenn ich nicht gesund gewesen wäre, ich wäre krank gewesen vor Hitze. Meine Mama! – mit Nachdruck – macht sich solche Sorgen! |
Turner tritt auf und begrüßt Tistou mit Nasenstübern und anderen Zeichen freudiger Erregung.
Schnurrebarbe tritt auf.
(Der Schauspieler muss sich hinter der Bühne schnellstens vom Doktor in den Gärtner verwandeln:
die Assistenz von anderen Mitwirkenden wird vonnöten sein!).
Schnurrebarbe | Hallo Tistou! Du hast ja etwas Tolles gemacht mit dem Zoo. Jetzt kann ich dir nichts mehr beibringen. Nun bist du so gut wie ich im Gärtnern. Nur viel schneller! |
Tistou | Das ist noch gar nichts! Ich war gerade im Krankenhaus und habe etwas von der Medizin gelernt. |
Schnurrebarbe | So? Was denn? |
Tistou | Medizin kann nicht viel helfen, wenn das Herz traurig ist; und man muss Lust zum Leben haben, wenn man gesund werden will. Darum habe ich Malisa Blumen geschenkt und ich glaube, ich habe dem kranken Mädchen damit geholfen. |
Schnurrebarbe | So ist es recht, Tistou. Und du hast auch gleich den zweiten Punkt beachtet, auch, wenn du ihn noch nicht kennst: man muss die Menschen sehr lieben, um ihnen helfen zu können. Aber …Tistou, hast du schon gehört? Es herrscht Krieg! Und das ist sehr traurig und sehr schlimm. |
Tistou | Ist denn der Krieg wirklich so traurig und schlimm? Meine Eltern scheinen das ganz anders zu sehen. |
Schnurrebarbe | Schau, Tistou. Ein einziger kleiner Dreckskrieg kann einen Garten völlig vernichten. |
Tistou | Vernichten? Was heißt das, vernichten? |
Schnurrebarbe | Das bedeutet zerstören, zertrampeln, zu Staub machen. |
Tistou | Und haben Sie schon so etwas gesehen? Herr Schnurrebarbe, ich meine: einen Garten, der vernichtet war vom Krieg? |
Schnurrebarbe | senkt seinen Kopf und zwirbelt seinen Schnurrbart: Oh ja. Ich habe gesehen, wie ein ganzer Garten voll blühender Blumen in zwei Minuten starb. Ich habe gesehen, wie Gewächshäuser in tausend Stücke flogen. So viele Bomben fielen in den Garten, dass man ihn nie mehr bearbeiten konnte. Sogar die Erde war tot. |
Tistou | Und wem gehörte der Garten? |
Schnurrebarbe | Schnurrebarbe wendet sich ab, um seinen Kummer zu verbergen, fasst sich aber wieder: Mir. Und andere waren noch viel schlimmer dran. Doktor Vielübel zum Beispiel: er hat durch den Krieg seine Heimat verloren. |
Tistou | Seine Heimat? Das ist doch nicht möglich? |
Schnurrebarbe | Doch! Seine Heimat ist ganz und gar verschwunden. Einfach weg. Er hat sie niemals wiederfinden können. Darum ist er ja hier. Oder Trommelpfiff: der hat seinen Sohn verloren. Andere Menschen verlieren einen Arm, ein Bein oder gar den Kopf. Im Krieg verliert jeder etwas. |
Tistou | Aber warum führen dann die Menschen Krieg? |
Schnurrebarbe | Tja, Tistou. Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin ja nur ein Gärtner. Aber frag doch Herrn Trommelpfiff. Der kennt sich bestimmt mit dem Krieg aus. Ich glaube, der war sogar einmal ein General, bevor er das Liebste verlor, das er auf der Welt besaß. |
Schnurrebarbe nimmt Tistou in den Arm und Turner am Halfter. Sie gehen zu dritt nachdenklich ab.
3. Akt
24.Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Musik (CD Nr. 21: Krieg!).
Monsieur Papa und Trommelpfiff sitzen seit der 23. Szene im Wohnzimmer. Sie lesen angestrengt in Geschäftspapieren und Plänen, schreiben hin und
wieder etwas auf und tauschen Papiere aus.
Monsieur Papa | spricht zur Musik: Ja, das könnte gehen. Wir verdoppeln ab sofort die Geschwindigkeit der Fließbänder. Haben wir noch Arbeitskräfte in Reserve? |
Tistou | hat das Wohnzimmer betreten und sieht Trommelpfiff über die Schulter. |
Trommelpfiff | spricht zur Musik: Ja, das schon. Aber ich sehe Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung. |
Monsieur Papa | Dann rufen wir eben die Konkurrenzfirma von uns … |
Tistou | Verzeihung, darf ich etwas fragen? |
Monsieur Papa | Worum geht es, Jean-Baptiste? |
Tistou | Ich wollte etwas über den Krieg erfahren. |
Monsieur Papa | Brav, mein Junge. Das ist gut, dass du dich dafür interessierst. Schließlich sollst du ja einmal meinen Betrieb übernehmen und ein ebenso kompetenter Fabrikherr werden wie es schon mein Großvater und mein Vater waren und wie ich es bin. Herr Trommelpfiff! |
Trommelpfiff | Ja, Monsieur? |
Monsieur Papa | Geben Sie doch Tist … äh – meinem Sohn Unterricht in militärischer Strategie. Ich schaffe den Rest schon allein. Am besten, ich sehe mir den Fortgang der Produktion vor Ort an und lege selbst Hand an, wo Not am Mann ist: mit gutem Beispiel voran! Trommelpfiff, Sie wissen also, was zu tun ist! |
Trommelpfiff | mit militärischem Gruß: Jawohl Monsieur. |
Monsieur Papa verlässt das Wohnzimmer.
Die Musik verklingt.
25.Szene
Wohnzimmer
Trommelpfiff | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | zu Tistou: Dann sag mir mal, was du wissen willst, Bursche. |
Tistou | Ich möchte wissen, wo der Krieg ausgebrochen ist. |
Trommelpfiff | Dann komm mit. Er führt Tistou zum Globus, dreht ein wenig und deutet dann mit dem Finger mitten auf die Kugel: Diese Wüste hier - kannst du sie sehen? Da ist es. |
Tistou | Der kleine rosa Fleck da, der wie ein Bonbon aussieht? |
Trommelpfiff | Jawohl! |
Tistou | Und warum ist hier Krieg ausgebrochen? |
Trommelpfiff | Das ist sehr leicht zu verstehen. Sehr leicht! |
Tistou | zum Publikum: Wenn die Erwachsenen schon sagen, etwas sei sehr leicht. |
Trommelpfiff | Also pass auf: Diese Wüste gehört niemandem. |
Tistou | wiederholt im gleichen Tonfall: Niemandem. |
Trommelpfiff | Aber östlich davon wohnen die Kommhers und westlich davon die Gehwegs. |
Tistou | wiederholt im gleichen Tonfall: Die Kommhers, die Gehwegs. |
Trommelpfiff | Vor einiger Zeit nun haben die Kommhers ihre Ansprüche auf die Wüste angemeldet. Postwendend haben die Gehwegs geantwortet, dass sie dieselben Ansprüche hätten. Beide Parteien haben daraufhin Militär an ihren Grenzen postiert. Beide haben einander aufgefordert, abzuziehen. Beide haben einander geantwortet, dass es hierfür keinen Grund gebe und dass sie vielmehr auf der Stelle in die Wüste einmarschieren würden. Ja und nun sind beide Armeen unterwegs … und wenn sie sich treffen … werden sie kämpfen. |
Tistou | Was gibt es denn so Besonderes in diesem rosa Bonbon - wollte sagen: in dieser Wüste. Vielleicht Gärten? |
Trommelpfiff | Aber nein! Es ist doch eine Wüste! Nichts gibt es da – jedes Wort einzeln betont: gar nichts! Im normalen Tonfall: Sand und Steine natürlich. |
Tistou | Dann schlagen sich diese Leute also um ein paar Steine? |
Trommelpfiff | Aber nein! Sie wollen besitzen, was darunter ist. |
Tistou | Unter der Wüste? Was gibt 's denn da? |
Trommelpfiff | jede Silbe einzeln betont: Erd-Öl ! |
Tistou | Und was wollen sie mit dem – er wiederholt im gleichen Tonfall – Erd-Öl? |
Trommelpfiff | Sie wollen es haben, damit die anderen es nicht bekommen. Sie brauchen es partout, weil man unbedingt Erdöl haben muss, um Krieg führen zu können. |
Tistou | Wenn ich recht verstehe, werden die Gehwegs und die Kommhers um Erdöl kämpfen, weil Erdöl auf jeden Fall nötig ist, um Krieg zu führen. – zum Publikum: Aber das ist doch der reinste Blödsinn! |
Trommelpfiff | Was hast du gesagt? |
Tistou | Ich sagte: Das ist doch der reinste Blödsinn! |
Trommelpfiff | zornig: Willst du eine Sechs haben? |
Tistou | Nein. Aber vor allen Dingen möchte ich nicht, dass es Krieg gibt. |
Trommelpfiff | etwas besänftigt: Ja gewiss, natürlich. Niemand will, dass es Krieg gibt. Das ist immer so gewesen. Aber ebenso sicher hat es immer wieder Kriege gegeben. |
Tistou | sieht seine Daumen an: Ist es weit bis zu dieser Wüste? |
Trommelpfiff | Sie liegt zwischen uns und der anderen Seite der Welt, ungefähr auf der Hälfte des Weges. |
Tistou | Dann kann sich der Krieg ja nicht bis Kimmelkorn ausdehnen. |
Trommelpfiff | Ach, das ist nicht unmöglich. Man kann sehr leicht feststellen, wo ein Krieg angefangen hat. Aber man kann unmöglich vorher wissen, wo und wie er aufhört. Die Kommhers können eine große Nation um Hilfe bitten, die Gehwegs eine andere: und schon greifen die beiden Großmächte ein und nehmen Partei. Das nennt man Ausweitung des Konflikts. |
Tistou | Und für wen baut meine Vater Waffen? |
Trommelpfiff | Für die Gehweg und für die Kommhers: beide Staaten waren schon immer gute Kunden. |
Tistou | Ach: dann schießt die eine Kanone von Kimmelkorn auf die andere Kanone von Kimmelkorn und die Gärten auf beiden Seiten werden zu Staub zerschmettert? |
Trommelpfiff | Geschäft ist eben Geschäft. |
Tistou | Das ist ein abscheuliches Geschäft! |
Trommelpfiff | Was? |
Tistou | Ich sagte: Das ist ein abscheuliches Geschäft! |
Trommelpfiff | gibt Tistou eine Ohrfeige – Und eine Sechs bekommst du obendrein! So. Und jetzt verschwinde. Warum soll ich mich mit dir noch weiter herumärgern. |
Tistou | verlässt weinend das Wohnzimmer. |
26.Szene
Wohnzimmer
Trommelpfiff | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Musik (CD Nr. 22: ...und noch mal Krieg!)
Trommelpfiff läuft während der Musik aufgebracht hin und her und schimpft laut vor sich hin.
Trommelpfiff | So ein Lausbub, so vorlaut! Und so frech! Unser Waffenhandel - er imitiert Tistou: ein abscheuliches Geschäft. – Mit der eigenen Stimme: Unglaublich! – Er imitiert Tistou: Krieg wegen Erdöl - der reinste Blödsinn! Mit der eigenen Stimme: So ein ungezogenes Kind. Von wem hat er das nur! Aber warte. Ich werde seinem Vater Bericht erstatten! Er geht zum Telefon und wählt; die Musik verstummt Ja, hallo?! Hier Trommelpfiff. Könnte ich bitte … Monsieur? Ah, sie sind es selbst! Ich wollte mit Ihnen über Tistou red … Zeit lassen! Was? Er ist in der Fabrik? Zeit lassen! Und sieht sich genau alle Waffen an? Zeit lassen! Sie meinen, mein Unterricht habe Früchte getragen? Zum Publikum: Seltsam, sehr seltsam. Ins Telefon: Er fasst sogar alles an und untersucht es mit den Händen? Zum Publikum: Merkwürdig, äußerst merkwürdig. Ins Telefon: Und er hat gefragt, welche Waffen ins Kriegsgebiet versandt werden? Zeit lassen! Und er überprüft alle Kisten, die zum Abtransport bereitstehen? Zum Publikum: Das verstehe ich nicht. Ins Telefon, geschmeichelt: Nun ja, ich habe mein Bestes getan, Monsieur. Ich habe Tistou erklärt … Ja. Selbstverständlich. Ich fühle mich geehrt. Zeit lassen! Vielen Dank. Gern geschehen. Auf Wiederhören. Er legt auf. Zu sich selbst: Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus. |
27. Szene
Garten
Turner | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Malisa | in Alltagskleidung |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Musik (CD, Nr. 23: Im Garten wird ein Plan gemacht)
Turner tollt mit Malisa zur Musik
herum. Gegen Ende der Musik tritt Tistou auf.
Malisa | Tistou, Tistou! Sieh her! Du hast recht gehabt. Ich bin gesund geworden. Und dein Pony mag mich! |
Tistou | bedrückt: Hallo Malisa. Das ist schön, dass du wieder gehen kannst und dass dich Turner mag. Hallo, Turner. |
Turner | läuft zu Tistou und begrüßt ihn stürmisch. |
Tistou | traurig: Ach Turner, mein Pony: ich habe, glaube ich, gerade etwas sehr, sehr Schlimmes getan. Die Erwachsenen nennen das Sabotage. Ich habe alle Waffen mit meinen Daumen berührt. Wenn die Gehwegs und die Kommhers morgen ihre Waffen bekommen, findet kein Krieg statt; und wenn Papa und Herr Trommelpfiff erfahren, wer daran schuld ist, dann komme ich ins Gefängnis. Oder es passiert mir noch Schlimmeres. Aber Turner,Malisa, ich musste es tun. Ich will doch nicht, dass Krieg ist! |
Turner | Turner reibt seinen Kopf an Tistou und stupst ihn tröstend und aufmunternd. | Malisa | Oh Tistou, ich finde, du hast das einzig Richtige getan. Ich bin stolz auf dich! |
Tistou | Malisa? Turner? Vielleicht muss ich fliehen. Würdet ihr mit mir in die Welt ziehen? | Turner | nickt heftig mit dem Kopf. |
Malisa | Freilich! Ich habe doch sonst niemanden. Und du? Du köntest den Menschen mit deinen Blumen Frieden und Glück bringen, wohin auch immer du kommst. Wenn wir Hunger haben, lässt du einfach Äpfel, Bananen und Nüsse wachsen, oder Erdbeeren, Blumenkohl und Tomaten … und Klee für Turner, Weißen Klee. Er hat mir nämlich gesagt, dass er den am liebsten mag. | Tistou | Du kannst Turner verstehen? |
Malisa | Genauso wie er mich. Ich habe entdeckt, dass ich alle Tiere verstehen kann. Weißt du: so kann uns nie etwas passieren, denn die Tiere – vor allem die Vögel – sagen mir, wann Gefahr droht. | Tistou | Aber ich glaube, bevor wir in die Welt ziehen, muss ich meinem Vater beichten, dass ich der Saboteur war, damit kein Unschuldiger zur Verantwortung gezogen wird. |
Malisa | Das ist gut, Tistou. Aber verschieben wir das auf morgen: denn die Waffen müssen ja erst versendet werden, bevor die Blumen wirken können. Komm, wir verkriechen uns und warten ab, was geschieht. |
Alle drei ab.
28. Szene
Stadt
Passanten | in Alltagskleidung. |
Extrazeil | wie in der 12. Szene. |
Zwei Zeitungsjungen | wie Extrazeil gekleidet. |
Musik (CD, Nr. 24: Dritter Zeitungssong),
Die Zeitungsverkäufer verteilen Flugblätter,
in denen die Ereignisse in Schlagzeilen aufgelistet sind, an das Publikum.
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Der Wüstenkrieg findet nicht statt! Letzte Meldung! Extrablatt! Weil jede Waffe Mängel hat! Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Kletternde und kriechende, |
2. Zeitungsjunge | ruft: klammernde und rankende Pflanzen |
1. Zeitungsjunge | ruft: haben in sämtlichen Waffenkisten Wurzeln geschlagen. |
2. Zeitungsjunge | ruft: Wilder Wein |
1. Zeitungsjunge | ruft: und Efeu, |
2. Zeitungsjunge | ruft: Winden, | 1. Zeitungsjunge | ruft: Wicken, |
2. Zeitungsjunge | ruft: Knöterich |
1. Zeitungsjunge | ruft: und Flachs |
2. Zeitungsjunge | ruft: bilden ein unentwirrbares Dickicht |
1. Zeitungsjunge | ruft: um Pistolen und Gewehre. |
2. Zeitungsjunge | ruft:: Und außerdem ist alles verklebt und verkleistert |
1. Zeitungsjunge | ruft: mit dem Leim des Bilsenkrauts. |
2. Zeitungsjunge | ruft: Keiner kann die Waffenkisten auspacken. | 1. Zeitungsjunge | ruft: Lesen Sie selbst! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Der Wüstenkrieg findet nicht statt! Letzte Meldung! Extrablatt! Weil jede Waffe Mängel hat! Letzte Meldung! Extrablatt! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Brennesseln, |
2. Zeitungsjunge | ruft: Brombeeren |
1. Zeitungsjunge | ruft: und Hagebutten |
2. Zeitungsjunge | ruft: sprießen auf den Sitzen sämtlicher Panzer |
1. Zeitungsjunge | ruft: und sämtlicher Flugzeuge! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Kein Soldat kann seinen Platz einnehmen! | 1. Zeitungsjunge | ruft: Nieswurz in den Gasmasken! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Überall Bärlauch |
1. Zeitungsjunge | ruft: und stinkende Kamille! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Jedem Soldaten, der kämpfen will, wird schlecht! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Kanonen werden zwar abgefeuert, |
2. Zeitungsjunge | ruft:: aber statt Granaten fliegen rote Nelken durch die Luft |
1. Zeitungsjunge | ruft: und Vergissmeinnicht |
2. Zeitungsjunge | ruft: und Sternblumen | 1. Zeitungsjunge | ruft: und Rosen! |
1. Zeitungsjunge | ruft: Kommhers und Gehwegs sind vom Blumenregen gerührt |
2. Zeitungsjunge | ruft: und schließen Frieden. |
1. Zeitungsjunge | ruft: Lesen Sie selbst! |
2. Zeitungsjunge | ruft: Sehen Sie selbst! |
Extrazeil | singt: Letzte Meldung! Extrablatt! Letzte Meldung! Extrablatt! |
29. Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Tistou | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Musik (CD, Nr. 25: Tistou beichtet) während der gesamten Szene.
Monsieur Papa und Trommelpfiff stürmen ins Wohnzimmer
und laufen dann aufgebracht und außer sich vor Wut und Verzweiflung hin und her.
Monsieur Papa | ... und das Ende vom Lied?: Verlust des Ansehens, Arbeitseinstellung und Schließung der Fabrik! Ich bin ruiniert! |
Trommelpfiff | Niemals mehr wird jemand Waffen von uns kaufen. Es gibt für uns keine Arbeit mehr. Wie sollen die Arbeiter ihre Familien ernähren? |
Monsieur Papa | verzweifelt: Oh, meine Kanonen, meine schönen Kanonen! |
Tistou | betritt mit hängendem Kopf das Wohnzimmer und bleibt im Hintergrund stehen. |
Trommelpfiff | wütend: Das ist Sabotage. Da sind Verschwörer am Werk. Das ist ein Anschlag der Kriegsgegner. |
Monsieur Papa | wütend: Ah! Wenn mir der Schuft in die Finger läuft, der die Blumen in meine Waffen gesät hat! |
Trommelpfiff | wütend: Ah! Wenn ich den zu fassen kriege. Da ist Hochverrat im Spiel, darauf steht lebenslänglich, wenn nicht die Todesstrafe! Standrecht! | Tistou | holt tief Atem; mit gesenktem Kopf: Das war ich, der die Blumen in die Kanonen gesät hat. |
Monsieur Papa und Trommelpfiff bleiben wie angewurzelt stehen und sehen Tistou entgeistert an.
Tistou | geht zu dem Bild mit der Kanone und drückt seine Daumen auf die Kanonenmündung. Das war ich, mit den Blumen im Gefängnis; und die Sach im Barackenviertel. Das war ich auch; und die Blumen für Malisa; und der Urwald im Zoo. Das war ich. |
Nach einigen Augenblicken
wird von hinten eine mächtige Blumengirlande durch die Kanonenmündung geschoben
(der Phantasie und dem Können des Bühnenbildners sind keine Grenzen gesetzt!).
Tistou | Ich habe eben grüne Daumen. |
Monsieur Papa sinkt auf die Couch. Trommelpfiff lässt sich ächzend auf dem Sessel nieder.
Tistou verlässt das Wohnzimmer.
30. Szene
Wohnzimmer
Monsieur Papa | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Trommelpfiff | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Madame Mama | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Madame Mama | betritt das Wohnzimmer und bleibt erstaunt vor der Blumengirlande stehen: Was ist denn hier passiert, Liebling? |
Monsieur Papa | tonlos: Ach Schatz, wenn du wüsstest. Unser Tistou ist der Attentäter. Unser Sohn. Sieh nur, er kann Blumen wachsen lassen. |
Trommelpfiff | gefasst und sehr ruhig: Von einem solchen Schlag erholt man sich nicht so leicht. Unsere Ware wird auf lange Zeit hinaus misstrauisch geprüft werden. Aber wenn wir Tistou einsperren, dann führt das zu gar nichts. Der lässt doch einfach Eichen wachsen und sprengt mit deren Wurzeln sämtliche Gefängnismauern … und schon ist er auf und davon. Gegen Naturkräfte kann man eben nichts ausrichten. Und außerdem haben wir alle unseren Tistou lieb. Wie könnten wir ihn also einsperren? |
Madame Mama | Zwei Erfolge gab es bisher für uns: wir haben die besten Waffen gebaut und wir haben einen glücklichen Sohn aufgezogen. Doch es scheint, dass wir beides nicht in Einklang bringen können. Was ist also zu tun, Liebling? |
Monsieur Papa | tonlos: Tistou ist mir noch wichtiger als die Fabrik. |
Trommelpfiff | Sie hatten sich von Tistous Zukunft eine ganz bestimmte Vorstellung gemacht: sie hatten gedacht, er würde später die Leitung des Werks übernehmen. – Zu Monsieur Papa: Wie Sie es von Ihrem Vater übernommen haben. Sein ganzer Weg war vorgezeichnet, sein Glück, seine Aussichten. |
Madame Mama | Das war eine vorgefasste Meinung … | Monsieur Papa | Ja, eine vorgefasste Meinung - und eine sehr bequeme dazu. Wir müssen uns schon etwas anderes einfallen lassen. Jedenfalls hat der Junge keine Lust zur Waffenfabrikation. Das ist offensichtlich. Er geht nachdenklich im Zimmer auf und ab. |
Madame Mama | Vielleicht ist er eher zum Gartenbau berufen. | Trommelpfiff | Vielleicht sollten Sie erst einmal ihn selber fragen, was er gerne möchte. | Monsieur Papa | bleibt stehen. Das ist ein gute Idee. Aber davon abgesehen habe ich noch eine andere: – er hebt seine Stimme, spricht in feierlichem Ton: Wir werden die Waffenfabrik in eine Blumenfabrik umwandeln, ob Tistou mitmacht oder nicht. Ich glaube an den Erfolg, denn die Schlacht der Veilchen und Ranunkeln hat in der ganzen Welt für Aufsehen gesorgt – die Öffentlichkeit ist also vorbereitet. Dazu die unerklärlichen Blumenvorkommen in Kimmelkorn und der erweiterte Name der Stadt: das alles wird die Entwicklung unseres aufstrebenden Unternehmens unterstützen. Und Sie, Trommelpfiff, Sie übernehmen die Werbung! |
Trommelpfiff | springt auf:Aber gerne, Monsieur, meine Ideen sprudeln! Er geht auf und ab. Passen Sie auf: Wir aus Kimmelkorn beweisen... Blumen wachsen sogar auf Eisen. Oder … äh …Gebt den Pflanzen und Blumen die Macht, uns're wachsen in einer Nacht! | Madame Mama | erhebt sich und klatscht entzückt in die Hände: Bravo, Trommelpfiff. Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Dichter sind! |
Trommelpfiff | unbeirrt, räuspert sich: oder... oder... Steckt in den Boden eure Lanzen, lasst und dort grüne Bohnen pflanzen. | Monsieur Papa | Genial! |
Trommelpfiff | Lasst violette Anemonen wachsen aus allen Feldkanonen! Er wird immer euphorischer und überdrehter: Sagt nein zum Krieg, gebt den Blumen den Sieg. Im Westen, Osten, Norden, Süden brüngen uns're Blüten Früden! Ich werde eine Blumenhymne schreiben, eine internationale Friedenshymne für alle Zeiten und Völker. | Monsieur Papa | nimmt Trommelpfiff beiseite und führt ihn hinaus: Bleiben Sie auf dem Teppich, Trommelpfiff, bleiben Sie auf dem Teppich. |
Trommelpfiff | lässt sich nicht beirren; im Hinausgehen: Sie werden es sehen und hören, Monsieur! |
Alle drei verlassen das Wohnzimmer.
31. Szene
Stadt
Maurice | im Blumengewand. |
Alle | wie in den vorhergehenden Szenen. |
Auf Maurices Zeichen hin betreten alle Mitwirkenden die Bühne.
Musik (CD, Nr. 26: Blumenhymne).
Alle singen gemeinsam Trommelpfiffs Blumenhymne und tanzen dazu:
Der Krieg ist tot für alle Zeiten, Sieger sind die Blumen.
Wir bauen in jedem Niemandsland Gemüse und Getreide an.
Grenzen werden abgeschafft, Kanonen, Bomben, Lanzen.
Wir werden auf den Kriegsschauplätzen Wald und Wiesen pflanzen.
Kein Mensch muuss dann mehr Hunger leiden, Gier wird so beendet
und Bodenschätze werden nur gebraucht im Sinne der Natur.
Nichts mehr gibt es dann zum Streiten, nichts mehr wird verschwendet
und alle Blumen werden gegen Traurigkeit verwendet.
Verbeugungen
Epilog (ad lib.)
Stadt
Alle | wie in der vorhergehenden Szene. |
Musik (CD, Nr. 24: Kein Zaubertrick!) beginnt in den Beifall hinein.
Tistou und Maurice
treten vor.
Maurice hält drei Schachteln, die locker ineinander passen.
Auf der kleinen steht "Wunder" geschrieben,
auf der mittleren "Märchen"
und auf der großen "Wirklichkeit".
Tistou singt
Wunder gibt es nur im Märchen.
Alle singen
Jawohl, so heißt es, das ist wahr!
Maurice steckt die kleine in die mittlere Schachtel und macht deren Deckel zu.
Tistou singt
Märchen gibt es nur in Wirklichkeit.
Alle singen
Märchen kennt ein jeder, das ist klar!
Maurice steckt die mittlere in die große Schachtel und macht deren Deckel zu.
Tistou singt
Wenn Wunder in den Märchen sind
und Märchen in der Wirklichkeit,
sind auch die Wunder drin.
Alle singen
Ja, das ist logisch, das macht Sinn!
Tistou singt
Also gibt es Wunder nur in Wirklichkeit.
Was zu beweisen war.
Maurice macht die Deckel der großen und mittleren Schachtel auf
und zeigt auf die kleine.
In den Schlussbeifall hinein wird nochmals die Blumenhymne (CD, Nr. 26) gespielt
und von allen Beteiligten mitgesungen.
Die Schauspieler mengen sich dabei unter das Publikum.
Einzelne Zuschauer werden zum Tanzen aufgefordert,
es werden Blumen verschenkt etc. etc.
Musik (CD, Nr. 28: … und was zum Träumen)
wenn die Gäste das Theater verlassen.
Ende
© golly 1995