Veranstaltungskritiken

Würdigung vergangener Veranstaltungen in der Kneipenbühne:

2022 04.06.

De Walfahrer

Was passieren kann, wenn ostfriesische Freizeitsänger nach Österreich zum Angeltörn wollen …

Zu Beginn der Pfingstferien humpelte eine ostfriesische Boygroup durch das (eigentlich geschlossene) Portal der Kneipenbühne. Deren Lieder – sorry Leader – gaben unumwunden zu: “Wi gung fehl!“ Das plattdeutsche Kauderwelsch ging weiter und ich konnte nur mit Mühe den Sinn erfassen. Ungefähr so: die zwei mal 13 wild-bärtigen Burschen wollten unbedingt nach „Alt-Ödingen zum Angelus“ (wer immer das sein mag). Nun, ich habe mich schlaugemacht. Also: Die Familie Strasser ist in Altötting ansässig und handelt mit Devotionalien. In ihrem Sortiment befindet sich der Artikel Weihrauch Angelus (blaue Schrift bitte jeweils anklicken, der Setzer)
"De Walfahrer" – so nennen sich die Shanty-Gröler nach einem großen Meeressäuger – hatten da wohl etwas falsch verstanden.  Ihr „Langenscheidt Lilliput Platt-deutsch“ scheint nicht viel zu taugen. Mit Angelhaken (sie dachten, in Bayern und "Ösiland" sage man statt Angel Angelus), Angelusruten (auch Engelsruten genannt, mächtige Teile!), den dazugehörigen Angelusschnüren und Wurm-Kötern [sic] – ebenfalls ein entsetzlicher Übersetzungsfehler – setzten sie über, nämlich von ihrer Hai-matt-Insel Borkum nach Eemshaven. Von hier aus schleppten sie sich zu Fuß weiter und zogen ihre gleichnamigen Netze hinter sich her, in der Annahme, Alt-Ödingen liege am Mondsee … oder in der Nähe von Saalfelden. Der Fußmarsch ging von Eemshaven über Appingedam, Veendam, Borger, Emmen und ungezählte andere Käffer immer Richtung Süd-Südoost. Auf den Köpfen trugen sie statt der lustigen Tampentrekker-Mützen (Tampen = Tau, trecken = ziehen) stets ihre Südwester-Reise-Regenhüte (in klassisch-marine von hanseheld.de: „Hanseheld Ahoi! Echtes Seemannsgarn“). Selbstverständlich hatten sie einen zuverlässigen Komplott, äh Kompott, Kompost, nee, Kompass dabei. 

Die Reise begann am Samstag, dem siebten März 2020. Ab diesem Zeitpunkt litten „die Tauzieher“, ein Pseudonym, das man ihnen in einer beliebten Late-Night-Show verpasst hatte, unter großer Atemnot, denn sie mussten maskiert gehen, und ihr vielstimmiges „To my ho-day, ho-day-ho!“ klang eher nach einem jämmerlichen Gehummel – hamburgisch für Gemurmel: „Hummel Hummel Mors Mors“ bedeutet übrigens „Murmel murmel, leck mich am Arsch“ (mors mors ist die Kurzform von ‚Klei mi an'n Mors‘, Quelle: Wikipedia).

Kein Wunder, dass sie erst fast zwei-ein-Viertel-Jahre später in Oberweiling auftauchten, nur, um zu erfahren, dass sie sich auf dem Holzweg befanden („Ein Seemann auf dem Holzweg“ – Unterwasser-und-auftauch-Kurzgeschichte, die erst geschrieben werden will). Warum aber um Himmels Willen zu Fuß? Na, weil sie irgendwo gelesen hatten, dass Walfahrer grundsätzlich per pedes nach Alt-Ödingen müssen. Oh mei.
Um „De Walfahrer“ aufzumuntern, erzählte ich ihnen einen uralten Witz, den sie allerdings nicht verstanden. „Ein Ostfriese stapft in seinen gelben Gummistiefeln und seiner schicken ‚Derbe Passby Fisher Yellow‘-Regenjacke durch den Wattschlick. Da erscheint ihm eine gute Fee. Sie sagt, er habe zwei Wünsche frei.“ „Wieso zwei?“ rief wie aus einem Mund das doppelte Boygrüppchen. „Na, weil der Ostfriese nicht bis drei zählen kann.“ „Den Joke verstehen wir nicht!“ „Moment, das war noch nicht die Pointe. Der Witz geht weiter: Der Ostfriese wünscht sich eine Flasche Köm (Aquavit), die niemals leer wird. Und – wuusch – hat er sie in der Hand. Er probiert und probiert, die Fless bleibt immer voll. Bald ist er komplett duun, vull und beswiemelt. Die Fee wird ungeduldig und fragt ‚Wat is nu mit dien tweede Begehr?“ Und er lallt nach längerem Nachdenken und einem weiteren kräftigen Schluck: ‚Noch maal so en Buddel‘“. Niemand lachte. Nun gut, es gibt bessere Witze.
Ich gestattete den beiden ‚Wilden Dreizehnern“, in unserer Einfahrt vor den Kneipenfenstern zu nächtigen; „de Walfahrer“ stimmten freudestrahlend zu: Das sei ja wie bei 'Inas Nacht', jubelten sie. Und wie zum Beweis sangen sie durch die offenen Fenster (es hatte während ihrer Anwesenheit in der Kneipe immer mehr nach [Fuß-] Pilsumer Rozenburg-Käse gemüffelt und ich musste lüften. Es war ein wenig unklug von mir gewesen, ihnen zu gestatten, ihre Wanderstiefel und die von Oma gestrickten Wollsocken ausziehen zu lassen):
Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn. (Der Link ist nur ein Ersatz, ich habe versäumt "de Walfahrer" zu filmen. Mir war bislang nur die Version von Ronny bekannt. Die ist mir aber unerträglich! Das Lied ist eine Adaption des englischen Shantys The Banks Of Sacramento. Die Melodie enstammt einem Minstrel, der Refrain des Textes der englischen Ballade Ten thousand miles away). Hier die wichtigsten Teile auf Hochdeutsch:
Ich habe mal einen Hamburger Viermaster gesehn. Die Masten waren so krumm wie die Beine vom Kapitän. Das Deck war voll Abfall, voll Scheiße und Schmiere. Das war die schönste Freude der Putzpioniere. Die Kammern waren voll Wanzen, die Kombüse war voll Dreck. Der Schiffzwieback lief von selber weg. Das Salzfleisch war grün und der Speck voller Maden. Und Aquavit gab es bloß an den Weihnachtstagen. Und wollten wir mal segeln, ich sag das nur, dann lief er drei (Knoten) voraus und vier retour. Und wie das Schiff war auch der Kapitän. Die Mannschaft, das muss man so seh'n wurde betrunken gemacht und mit Gewalt an Bord gebracht. 

Übrigens schickte ich die ältliche Boygroup am Morgen zum Parsberger Bahnhof, wo sie geknickt die Heimreise antrat: Den Jungs ist nun Weihrauch und Altötting ebenso bekannt wie vergangen, auch wissen sie jetzt, dass Wallfahrer sehr wenig mit riesigen Meeressäugern zu tun haben (na ja, es gibt einen Jona in der Bibel) und dass das Dorf Oedingen ein Ortsteil der Gemeinde Stadt Lennestadt im Kreis Olpe (Nordrhein-Westfalen) ist. Die armen Fehlgeher. 

Apropos „Inas Nacht“: Seit dem 8. März 2020 galten die Shanty-Sänger vor dem Fenster als verflundert – sorry – verschollen. Und hätte der Intendant des Norddeutschen Rundfunks nicht postwendend Ersatz gefunden, wäre „Inas Nacht“ sang- und klanglos von der deutschen Medienlandschaft verschwunden. Irgendwie schade, dass das nicht passierte.